Serie: ZUM 8. MAI 1945: Kapitulation und Befreiung, Teil 5: ein Rundfunkkommentar aus dem Jahr 1965

 

Conrad Taler

 

Bremen (Weltexpresso) – Auch ein Jahrestag. Genau vor 50 Jahren und vier Monaten wurde der folgende Rundfunkkommentar unseres Autors Kurt Nelhiebel mit seinem Autorennamen Conrad Taler von Radio Bremen ausgestrahlt. Er behandelt den damaligen politischen Eiertanz zum bevorstehenden 8. Mai 1965. Dies ist nicht nur ein aufschlußreiches Zeitdokument, sondern kann Zeugnis davon abgeben, was sich in Deutschland in der Argumentation vorrangig der CDU geändert hat. Zwanzig Jahre später kam dann die Weizsäckerrede. Die Redaktion.

 

 

Ein Rundfunkkommentar aus dem Jahr 1965

 

Der 20. Jahrestag der Kapitulation des nationalsozialistischen Gewaltregimes rückt näher, und die Parteien sehen sich vor die Entscheidung gestellt, wie sie sich zu diesem Datum verhalten. Der FDP-Vorsitzende und Vizekanzler Mende hat angeregt, am 8. Mai ein großes Jugendtreffen im Berliner Olympiastadion abzuhalten, und der CDU Abgeordnete Gradl schlug eine Sondersitzung des Bundestages vor. Sie fanden damit ein ungnädiges Echo.

 

Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Rasner, lehnte beide Vorschläge rundweg ab. „Ich glaube nicht”, sagte er, „dass andere Völker auf die Idee kommen würden, ausgerechnet des Tages ihrer bedingungslosen Kapitulation zu gedenken.” Wenn angesichts mancher „verständlicherweise lautstarken Feier” bei den Siegerstaaten jeder Deutsche für sich im stillen Kämmerlein die Ursachen der Kapitulation bedenke, dann sei das gut und ausreichend. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Erler bemerkte, der 8. Mai könne für die Deutschen keinen Jubeltag bedeuten. Zwar handle es sich um den Beginn einer neuen deutschen Geschichte, aber es sei zu bedenken, ob dieser Tag der geeignete Anlass zu großen Aufmärschen und Feiern sei. Das Datum sei mit so viel Dunkelheit beladen, dass es gut wäre, das Thema noch einmal gründlich zu durchdenken.

 

Dem ist durchaus beizupflichten; das Thema sollte wirklich gründlich durchdacht werden. Es wäre betrüblich, wen es sich bei den jetzigen Stellungnahmen der CDU/CSU und der SPD um ihr letztes Wort zu dieser Sache handelte. Voraussetzung ist, dass die Begriffe zunächst einmal gründlich geklärt werden. Wer beispielsweise vom 8. Mai als dem Jahrestag der deutschen Kapitulation spricht oder schlechthin von der Kapitulation Deutschlands redet, schafft damit nur Verwirrung, weil er auf unzulässige Weise Deutschland mit dem nationalsozialistischen Unrechtsregime gleichsetzt. Nicht Deutschland hat am 8. Mai kapituliert, sondern Hitlers Wehrmacht und die nationalsozialistische Regierung. Ebenso wenig kann davon die Rede sein, dass das deutsche Volk kapituliert hat, denn wer wollte behaupten, dass die nationalsozialistischen Machthaber das deutsche Volk in seiner Gesamtheit repräsentiert haben.

 

Man sollte sich bei allen Parteien rechtzeitig Klarheit darüber verschaffen, dass der 8. Mai zu einem Prüfstein werden wird. An ihrem Verhalten zum Jahrestag der Kapitulation des nationalsozialistischen Regimes wird die Welt ablesen, inwieweit unser Volk auch die geistigen Trümmer beiseite geräumt hat, die vom zusammengebrochenen Nazistaat zurückgelassen worden sind. Natürlich wird niemand von den Deutschen in der Bundesrepublik erwarten können, dass sie das Ende dieses Staates in der gleichen Weise begehen wie jene Völker, die vom Nationalsozialismus gepeinigt worden sind und an seiner militärischen Niederringung beteiligt waren. Aber ist nicht auch u n s e r Volk vom Nationalsozialismus gepeinigt worden? Die Millionen Toten des Krieges und die tausenden von Opfern der Konzentrationslager - auf wessen Konto kommen sie? Und schließlich: was wäre gewonnen worden, wenn die braunen Machthaber den Sieg davongetragen hätten? Vielleicht würden noch heute die Schornsteine der Krematorien in neu errichteten Vernichtungslagern rauchen, um dem Rassenwahn einen schaurigen Triumph zu bereiten.

 

Das alles sollte gründlich bedacht werden, ehe man sich zu einem Urteil entschließt. Wem nutzt es, wenn die Parteien an Gedenktagen für ermordete Widerstandskämpfer ihre Abscheu vor dem nationalsozialistischen Gewaltregime kundtun, ohne am Jahrestag der Kapitulation dieses Regimes den Mut zu dem Bekenntnis zu haben: es war gut, dass das braune Terrorregime niedergerungen worden ist? Wer sich in jeder Beziehung vom Nationalsozialismus abgewandt hat, dem kann und darf ein solches Bekenntnis nicht schwer fallen. Dabei geht es gar nicht in erster Linie darum, gegenüber dem Ausland eine Verbeugung zu machen, obwohl es unserem Volk nicht schlecht zu Gesicht stünde, wenn es sich aus diesem Anlass auch vor den Toten anderer Völker verneigte, die im Kampf gegen das Naziregime gefallen sind. Hier handelt es sich vielmehr um eine Frage der inneren Wahrhaftigkeit, die um unseres eigenen Volkes willen in unmissverständlicher Weise beantwortet werden muss.

 

Wer den 20. Jahrestag der Kapitulation des Hitlerstaates mit bockigem oder verschämtem Schweigen vorbeigehen lassen will, nährt den Verdacht, die Zahl der noch immer nicht bekehrten Anhänger der NS-Ideologie sei so groß, dass in einem Wahljahr Rücksicht auf ihre Gefühle genommen werden müsste. Das Mindeste, das zum 8. Mai erwartet werden kann, ist die ernste Besinnung, wie all das Furchtbare geschehen konnte. Sie wach zu rufen ist Aufgabe der Parteien und der Regierung.

 

Foto:

Wenn 1965  schon kein deutsches Gedenken des 8. Mai 1945 stattfand, also auch kein Bild vorhanden ist, dann wenigstens hier die feierliche Parade General de Gaulles in Paris