In Hessischen Staatstheatern: AURORA in Kassel, in Darmstadt ASCHENPUTTEL

 

Hanswerner Kruse

 

Fulda (Weltexpresso) - Momentan werden bekannte alte Märchen in den Hessischen Staatstheatern getanzt: In Kassel wurde „Aurora“ nach „Dornröschen“ von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky uraufgeführt, in Darmstadt hatte Sergej Prokofjews „Aschenputtel“ Premiere. Wie gehen zeitgenössische Choreografen mit verstaubten Ballettvorlagen des 19. Jahrhunderts um?

 

In seiner letzten Kasseler Choreografie ließ Johannes Wieland von seinem Ensemble den Bühnenboden aufreißen, wohl damit die Tanzenden dem auf den Brettern gezeigten Irrsinn entkommen konnten. Nun entkleidet er radikal „Dornröschen“ um den Ballast des Märchens und konzentriert sich auf die pubertierende 16-jährige Aurora (Morgenröte), wie Dornröschen bei Tschaikowsky heißt. Die einhundert Jahre im Märchenschlaf werden als ihre ohnmächtige Verzweiflung und ihr Ringen um Identität interpretiert:

Aurora ist einsam, sie rebelliert, sie leidet, sie widersetzt sich ihren Zurichtungen als Frau. Die Tanzenden vervielfachen unterschiedliche Auroras, zerren sie tanzend an den Haaren, zwingen sie in weibliche Posen. Das Ensemble nutzt alle Varianten des zeitgenössischen Tanzes, dazu Akrobatik, Alltagsgesten, lebende Bilder. Es gibt keine klassischen Ballettfiguren, nicht einmal als ironisches Zitat. Das Stück erzählt keinesfalls Dornröschens Geschichte sondern bietet den Zuschauern offene, interpretierbare Assoziationen an. Zur Erklärung legt es allenfalls Spuren: „Ich bin immer noch 16 Jahre und sterbe“, schreit eine Aurora ins Publikum.

 

Im ersten Teil ist die ganze Compagnie oft auf der kleinen Kasseler Bühne und agiert gemeinsam oder mit vielen Parallelhandlungen. Auf die Dauer nervt diese Wimmelbühne - aber möglicherweise symbolisiert sie die Weltwahrnehmung eines Teenies und die vielfältigen Möglichkeiten ihres zukünftigen Lebens.

 

Stärker wechseln Soli und Ensembleszenen im zweiten Teil, der nach dem Prinzen Desiré (Der Ersehnte) benannt ist, gleichzeitig aber auch mit dem englischen Wort desire spielt: Begierde und Lust sind nun die Themen, die durch den Prinzen für Aurora virulent werden. Während sich eine Aurora lachend entkleidet, turnen Männer in roten Slips und High Heels im roten Licht unter der Leuchtschrift DESIRE. Derweil robbt das Ensemble mit lasziven erotischen Bewegungen über die Bühne. Doch diese Tanzbilder sind nie vulgär, werden immer wieder spöttisch gebrochen.

 

Unbekümmert kürzt Wieland Tschaikowskys tragische oder süßliche Musik, es wird oft in der Stille getanzt, eingefügte serielle Streicherkompositionen erzeugen Spannung. Das ist in der Darmstädter Inszenierung von „Aschenputtel“ durch Tim Plegge völlig anders, dessen Ensemble sich exakt an Prokofjews Beschreibung des Märchens hält. Die Musik gibt die jeweilige Stimmung vor, die vom Ensemble in altmodischen Kleidern durchaus mit „modernen“ Mitteln getanzt wird. Diese Tänze sind mit viel Slapstick, Pantomime aber auch etlichen klassischen Ballettfiguren garniert. Selten jedoch paraphrasieren sie die Handlung oder die Gefühle der Figuren, sondern illustrieren und verdoppeln sie lediglich.

 

Interessant wird Plegges Chorografie durch die von ihm eingefügten Tänzerinnen und Tänzer als schwarze Vögel; sie symbolisieren die dunklen Seiten der Märchenwelt. Zu eigens für sie komponierter Musik helfen sie Aschenputtel in entscheidenden Momenten.

 

Doch insgesamt ist Plegges Tanztheater recht gefällige und wenig herausfordernd. In beiden Stücken sind Dornröschen und Aschenputtel starke, kämpferische Mädchen, ihre Prinzen haben eine Geschichte, sie sind nicht nur Traumfiguren. Doch der Vergleich beider Choreografien zeigt, dass es nicht reicht, bloß die Themen zu modernisieren, man muss dafür, wie Wieland, auch adäquate zeitgenössische Tanzformen finden.

 

Von Fulda aus sind es bis Kassel oder Darmstadt jeweils gut 100 km. Tanzfreunde können sich nach ihrem Geschmack entscheiden, ob sie ein eher traditionelles „Aschenputtel“ oder ein radikalisiertes „Dornröschen“ erleben möchten.

 

 

Weitere Aufführungen

 

Aurora“ in Kassel 15. und 22. Mai, 16. und 17. Juni, 3., 5. und 21. Juli

Aschenputtel“ in Darmstadt 16. Mai, 4. und 12. Juni, in Wiesbaden am 7. Juli

 

FOTO:

 Aschenputtel“ in Darmstadt - eines der wenigen interessanten Tanzbilder, in der das Mädchen die Küchenarbeit verweigert, © Staatstheater Darmstadt / Wiesbaden