Kleine Nachhilfe für Unkundige und Vergessliche
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Nein, bis Adam und Eva, wie manche abwehrend meinen, muss man nicht zurückgehen, um das Verhältnis zwischen den einst in Böhmen und Mähren lebenden Deutschen und Tschechen zu ergründen. Aber man darf sich auch nicht auf die Zeit nach 1945 beschränken,
als diesen Deutschen die Rechnung dafür präsentiert wurde, dass sich die meisten von ihnen 1938 Hitler jubelnd in die Arme geworfen haben. Wie es dazu kommen konnte, dass vernunftbegabte Menschen lieber in dem diktatorisch regierten Nazideutschland statt in der demokratisch regierten Tschechoslowakischen Republik leben wollten, lässt sich im Nachhinein schwer erklären. Wie so oft spielten soziale Probleme und nationalistische Verblendung die entscheidende Rolle.
Als die Tschechen nach dem Ersten Weltkrieg einen eigenen Staat bekamen, veränderten sich die ethnischen Mehrheitsverhältnisse dramatisch. Anders als zur Zeit der Donaumonarchie gehörten die Deutschen in Böhmen und Mähren nicht mehr zur Deutsch sprechenden Bevölkerungsmehrheit, sondern sahen sich in der Rolle einer Minderheit wieder. Umgekehrt stellten die Tschechen, die bis dahin in der Minderheit waren, jetzt die Bevölkerungsmehrheit. Deutsche, die Karriere im Staatsdienst machen wollten, mussten des Tschechischen mächtig sein, so wie die Tschechen früher Deutsch lernen mussten, wenn sie eine Beamten- oder Offizierslaufbahn einschlagen wollten.
Viele Deutsche empfanden das in ihrem Dünkel gegenüber allem Slawischen als nationalistische Provokation. Andererseits fanden sich die Tschechen in ihrer neuen Rolle als Staatsvolk auch nicht von heute auf morgen zurecht und übten sich in sinnlosen Machtproben und kleinlicheN Sticheleien. Dabei hätten sie aus leidvoller Erfahrung wissen müssen, dass ohne Toleranz und gegenseitigen Respekt ein gedeihliches Miteinander nicht zu erreichen war. Ungeachtet aller Spannungen normalisierten sich die Verhältnisse mit der Zeit. Bei Wahlen tendierten die Deutschen eher zur Sozialdemokratischen Partei als zu nationalistisch orientierten Gruppierungen.
Das änderte sich Ende der 1920er Jahre, als die Weltwirtschaftskrise auch in den industriell geprägten und überwiegend von Deutschen besiedelten Randgebieten der Tschechoslowakei zu einer Massenarbeitslosigkeit führte. Völkisch gesinnte Scharfmacher machten die tschechische Regierung für die Not vieler Familien verantwortlich. Sie priesen die Nationalsozialisten in Deutschland, denen es gelungen sei, die Arbeitslosigkeit abzubauen, als Vorbild. Die mit den Nazis sympathisierende Sudetendeutsche Partei unter Führung von Konrad Henlein eroberte 1935 bei einer Parlamentswahl auf Anhieb 65 Prozent der deutschen Wählerstimmen. Bei der Kommunalwahl im Mai 1938 stimmte die deutsche Minderheit zu 90 Prozent für die Partei Henleins.
Nicht alle machten sich damit deren politisches Programm zu eigen, aber ein Teil der Sudetendeutschen hielt damals sogar bewaffneten Widerstand gegen die Regierung des eigenen Landes für gerechtfertigt. Wehrfähige Männer schlossen sich dem Sudetendeutschen Freikorps an, einer von Deutschland aus operierenden Freischärlertruppe, die tschechische Grenzposten überfiel und für jene Spannung sorgte, die Hitler für die von langer Hand geplante Abtrennung des so genannten Sudetenlandes brauchte. Finanziert wurde das Freikorps auch vom IG-Farben-Konzern, der sich später an Auschwitz-Häftlingen bereicherte und zuvor das Gitgas geliefert hatte . Henlein selbst wurde von Hitler mit dem Posten eines Gauleiters der NSDAP belohnt.
Siegestrunken enthüllte er 1941 seine Rolle als Gefolgsmann Hitlers: „Um uns vor tschechischer Einmischung zu schützen, waren wir gezwungen zu lügen und unsere Ergebenheit gegenüber dem Nationalsozialismus zu leugnen. Lieber hätten wir uns offen zum Nationalsozialismus bekannt. Es ist jedoch eine Frage, ob wir dann imstande gewesen wären, unsere Aufgabe zu erfüllen – die Tschechoslowakei zu vernichten.“
Davon will die Sudetendeutsche Landsmannschaft heute nichts mehr wissen. Wahrheitswidrig und verharmlosend spricht ihre Grundsatzerklärung vom 25. Februar 2015 von einer „Instrumentalisierung und Gleichschaltung der Sudetendeutschen Volksgruppe durch das nationalsozialistische Deutsche Reich“. Dabei kommt sogar einer der „Haushistoriker“ der Vertriebenen, der amerikanische Völkerrechtler Alfred M. de Zayas, zu dem Schluss: „Die Teilnahme von Personen deutscher Volkszugehörigkeit an illegalen Aktionen oder Verschwörungen vor dem Krieg in Polen und der Tschechoslowakei lässt sich dokumentarisch belegen.“ Was es mit dem Begriff Fünfte Kolonne“ auf sich hat, beschreibt er in seinem Buch „Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen“ auf Seite 28:
„Der Ausdruck wurde im spanischen Bürgerkrieg von Emilio Mola, zusammen mit Franco, Führer der ‚Nationalen’, geprägt. Er marschierte mit vier Kolonnen auf das von den Republikanern gehaltene Madrid und bezeichnete die in der Hauptstadt lebenden Sympathisanten der Nationalen als seine ‚fünfte Kolonne’.“ Nach dieser Definition kann nicht zweifelhaft sein, welche Rolle die Sudetendeutschen mehrheitlich gespielt haben, bevor Hitler seine Marschkolonnen in Bewegung setzte.