50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess. Vortrag in der Villa Ichon in Bremen am 5. September 2015, Teil 4/5
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Inzwischen gibt es keine kommunistischen Geheimdienste mehr, aber noch immer werden Hakenkreuze auf Grabsteine geschmiert und jüdische Einrichtungen angegriffen. Während seiner Amtszeit als Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland verlangte Paul Spiegel, beim Kampf gegen die Neonazis nicht bestimmte Entwicklungen in der Mitte der Gesellschaft aus dem Blickfeld zu verlieren; dort gebe es immer noch hartnäckige Vorurteile gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft und anderer Religion.
Wie es in der Mitte der Gesellschaft zur Zeit des Auschwitz-Prozesses aussah, verdeutlichte ein Vorfall kurz nach Prozessbeginn. Ein ehemaliger Spitzenmanager des IG-Farben-Konzerns, der wegen des Einsatzes von Auschwitzhäftlingen zu Sklavenarbeit, zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden war, wurde mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, weil er sich angeblich um den Wiederaufbau verdient gemacht hatte. Als einzige deutsche Zeitung prangerte die antifaschistische Wochenzeitung „Die Tat“ den Skandal an. Erst als eine jüdische Zeitung aus der Schweiz bei der Ordenskanzlei in Bonn anrief, musste der Geehrte das Verdienstkreuz zurückgeben.
Zyniker sagen, die Wiederbeschäftigung alter Nazis habe der Demokratie nicht geschadet. Alle hätten sich doch vom Ungeist des Nazismus distanziert. In der Tat hat es an solchen Beteuerungen nicht gefehlt. Immer hieß es, die Bekämpfung des Rechtsextremismus gehöre, wie die Bekämpfung des Linksextremismus, zu den Lehren der Vergangenheit.
In Wirklichkeit hatte man hauptsächlich die Linken im Visier, darunter die aktivsten Gegnern Hitlers, deren Widerstand gegen die Wiederbewaffnung und die Notstandsgesetze als Widerstand gegen den Rechtsstaat gedeutet und deren Verdienste im Kampf gegen den nazistischen Unrechtsstaat ignoriert wurden.
Die „unbußfertige Verschwörung des allgemeinen Nichtwissens”, die Fritz Bauer bei den Angeklagten im Auschwitz-Prozess beobachte hatte, beschränkte sich nach seiner tiefen Überzeugung nicht auf den Kreis der unmittelbar an den NS-Verbrechen Beteiligten; er hielt sie für ein verbreitetes Phänomen.
Für eine Radio-Bremen-Sendung habe ich den Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsidenten Richard Schmid 1966 befragt, wie er die Stimmung im Lande beurteilt. Er sagte, das deutsche Volk zeige noch immer die alte Mischung von Intoleranz und Autoritätsglauben und neige zu irrationalen nationalistischen Anwandlungen. Auch sonst gebe es Anzeichen, dass das deutsche Bürgertum das alte Gift noch nicht ausgeschieden habe. Das waren prophetische Worte.
„Raus dem Schatten Hitlers!“
1983 appellierte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Alfred Dregger, an die Deutschen, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten und normal zu werden. Für den Generalinspekteur der Bundeswehr, Heinz Trettner, war der Überfall auf die Sowjetunion, „anders als die Umerziehungspropaganda“ behaupte, „in erster Linie ein nur schweren Herzens begonnener, aufgezwungener Präventionskrieg“. (Zitiert nach Walter Kolbow, Rede im Deutschen Bundestag am 13.März1997, S.14724)
Der Historiker Ernst Nolte löste 1986 mit seiner Frage, ob der „Archipel Gulag”, also das Verbannungssystem unter Stalin, nicht „ursprünglicher als Auschwitz” gewesen sei, den Historikerstreit aus. Der grüne Außenminister Joschka Fischer rechtfertige die deutsche Teilnahme am völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Jugoslawien mit dem Satz, er habe nicht nur „Nie wieder Krieg” gelernt, sondern auch „Nie wieder Auschwitz”, so als hätten auf dem Balkan Gaskammern und Verbrennungsöfen verhindert werden müssen.
Bahnchef Hartmut Mehdorn ließ 2002 mit Rückendeckung des Bundesverkehrsministers Manfred Stolpe (SPD) die Namen der Widerstandskämpfer Sophie Scholl und Graf Stauffenberg von den ICE-Zügen entfernen, weil sie angeblich zu lang waren. Entfernt wurden auch die Namen der Pazifisten Carl von Ossietzky und Ludwig Quidde. Ersetzt wurden sie durch Städtenamen, die beim geplanten Gang der Bahn an die Börse weniger störten. („Ossietzky“, Heft 2, 2009). Niemand nahm Anstoß. Auch der Verein „Gegen Vergessen, für Demokratie“ unter Vorsitz von Joachim Gauck schwieg. Acht Jahre danach ließ Gauck sich in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis auszeichnen, umrauscht vom Beifall prominenter Gäste. Fortsetzung folgt.