50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess. Vortrag in der Villa Ichon in Bremen am 5. September 2015, Teil 5/5
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Auf Einladung der Robert-Bosch-Stiftung referierte Joachim Gauck am 26. März 2006 in Stuttgart über das Thema „Welche Erinnerungen braucht Europa“. Zum Massenmord der Nazis an den Juden sagte er, der Holocaust sei inmitten einer hoch entwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen konzipiert und durchgeführt worden. Deshalb müsse er als Problem dieser Zivilisation und Kultur betrachtet werden.
Der Gulag, Auschwitz und Hiroshima, also der Atombombenabwurf der Amerikaner, gehören – in dieser Reihenfolge - für Gauck als Symbole des Inhumanen zusammen. (www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/Stiftungsvortrag_Gauck_fuer_internet.pdf). Das wird die Unbelehrbaren freuen. Deren Fazit lautet seit jeher: Die Russen haben es vorgemacht, die Amerikaner haben es nachgemacht. Also lasst uns mit Auschwitz endlich in Ruhe.
Mit seiner Stuttgarter Rede verabschiedete sich Gauck von der Aussage Richard von Weizsäckers, der Völkermord an den Juden sei „beispiellos in der Geschichte“. Er schob beiseite, was der Rechtswissenschaftler Bernhard Schlink zu bedenken gab, für den Holocaust und Drittes Reich, anders als etwa die Untaten Stalins, „Perversionen bürgerlicher Kultur“ sind. Wenn damals das Eis, auf dem man sich kulturell und zivilisatorisch sicher wähnte, in Wahrheit so dünn gewesen sei, wie sicher sei dann das Eis, auf dem wir heute leben, fragt Schlink in seinem Buch „Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht“. (Ffm. 2002, S. 148-154) „Ist das Eis mit dem Ablauf der Zeit dicker geworden, oder hat uns der Ablauf der Zeit nur vergessen lassen, wie dünn es ist?“
Schlussstrich-Mentaltität
In Frankreich hat der rechtsgerichtete Front National seinen Parteigründer Le Pen dieser Tage ausgeschlossen, weil er die Gaskammern der Nazis als Detail der Geschichte des Zweiten Weltkrieges bezeichnet hat. Joachim Gauck wurde 2010, also nach seinen schillernden Äußerungen zum Holocaust, von SPD und Grünen als Kandidat bei der Bundespräsidentenwahl aufgestellt und 2012 zum Staatsoberhaupt gewählt - in eben jenem Plenarsaal des Bundestages, in dem der Historiker Heinrich August Winkler die Deutschen am 8. Mai 2015, ganz im Sinne Alfred Dreggers, unter Beifall dazu aufrief, sich „durch die Betrachtung der Geschichte nicht lähmen zu lassen“.
Alles nur Einzelmeinungen? Alles nur Einzelfälle? Ja, alles nur Einzelfälle, aber sie ergeben wie Mosaiksteinchen ein Gesamtbild, das nachdenklich stimmt. Anscheinend hat Bundespräsident Roman Herzog 1998 umsonst daran erinnert, „dass wir nicht in den alten Überlegenheitswahn zurückfallen wollen“. Sein Nachnachfolger Gauck hält es, ebenso wie die Bundesregierung, für richtig, im Kampf für die Menschenrechte auch zu den Waffen zu greifen, er, der als Pfarrer auf der Seite jener Bürgerrechtler stand, die in der DDR unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ für eine friedliche Welt kämpften.
In einem Kommentar zu Gaucks Plädoyer für den Einsatz von Waffen fragte die „Süddeutsche Zeitung“ vom 16. Juni 2014, warum die früher geübte Zurückhaltung jetzt abgelegt werde. „Weil das Trauma von Schuld und ‚Nie wieder Krieg’ ins Geschichtsbuch gehört? Gauck sagt es nicht, aber es klingt bei jedem seiner Worte mit: dass irgendwann mal Schluss ist. Das ist der eigentliche Sprengstoff seiner Botschaft. Er sollte ihn schleunigst unschädlich machen.“
Nichts gehört der Vergangenheit an
Bis heute hat er das nicht für notwendig gehalten. Vielleicht sollte Bundeskanzlerin Merkel ihn daran erinnern, dass sie mit ihrem Satz von der „immerwährenden Verantwortung“ für das von Deutschland begangene Menschheitsverbrechen bei den Hinterbliebenen der Ermordeten im Wort steht. Sie haben am schwersten daran zu tragen, dass die Vergangenheit peu à peu entsorgt und der Welt gegenüber gleichwohl der irrige Eindruck erweckt wird, es gebe nach dem deutschen Wirtschaftswunder jetzt auch noch ein deutsches Vergangenheitsbewältigungswunder.
In Wirklichkeit gilt immer noch, was Fritz Bauer unter dem Eindruck einer verbreiteten Indolenz gegenüber der Nazivergangenheit dem deutschen Volk bewusst zu machen versuchte: „Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden. Nichts ist, wie man zu sagen pflegt, bewältigt, mag auch die Öffentlichkeit sich gerne in dem Glauben wiegen, dass ihr zu tun fast nichts mehr übrig bleibe.”