Das Gallustheater Frankfurt verhandelt eindringlich die Fallsucht der Ideen

 

Heinz Markert

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das Gallus-Theater hat mit 'Kassandra' einen Baustein zum besseren Verstehen des Wettlaufs der Ideen aufgegriffen und geliefert. 'Kassandra-Rufe' sind in das allgemeine Sprachverständnis eingegangen, sind als Diskussionsansatz anerkannt, dürften aber darüber hinaus gehend welthistorischen, geschichtsdialektischen und pädagogischen Rang beanspruchen.

 

Niemand glaubt, dass Kassandra nicht in wesentlichen Teilen Recht hat, oder bekommt, wenn sie seherisch ihre Warnungen ausstößt, auswürgt und kommende Übel als Gegenrechnungen für Versäumnisse prophezeit. Einzelne sind zwar von Haus aus bereit auf Kassandra zu hören, aber Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft - in der Majorität - durchaus nicht. Gerade hatte am letzten Wochenende die CDU in Frankfurt wieder eine Schönfärberei ihres politischen Wirkens in kaum erträglichem Sermon kommuniziert. Das Grauen der Geschichte beginnt im alltäglich Banalen des Geschäfts auf untersten Ebenen.

 

Nicole Horny als Kassandra gemahnte mit ihren Auftritten an jene verstellten, gepressten, Stimmen, wie sie die anderen Überzeugungen aus Buddhismus, Yoga und Schamanismus kennen, die auf anderen Zuständen gründen und sich einer unter Umständen grausigen, unangenehmen Erkenntnis versichern, sich in gesteigerte Einsicht in diese bestärken, indem sie mit dem inneren Sehen und einem feineren Fühlen verknüpft sind, zumindest in Momenten der Hellsicht. Das Hören und verstehen jener anderen Art erregt einen Schauer als Wirkung des helleren Teils der besonderen menschlichen Sehkraft.

 

Das verhandelte Weltsystem bewegt sich im Konfliktfeld der Fürchterlichkeiten des 20. Jahrhunderts: Kapitalismus/Faschismus/Kommunismus, Sozialismus/Warendemokratie, Gesellschaftsutopie/'Wirtschaftlichkeitsrealismus' oder was des vermeintlich Guten oder weniger Guten, aber wegen Dürftigkeit Gescheiterten, ist - was nicht heißen muss, dass Konflikte und Auseinandersetzungen gänzlich von Übel seien, denn dann käme alles bei weitem noch schlimmer, dann hätte die Welt womöglich noch mehr IS. Die Weltgeschichte ist - Vorbedingung für das Theater - eine des permanenten Scheiterns. Und eine der bedingten Reaktionen darauf ist die unvermeidliche, unwiderstehliche Kassandra.

 

Das Stück ist die dritte zeitgeschichtliche Arbeit im Hinblick auf den 25. Jahrestag der deutschen Einheit, die hoffnungsvoll begann, aber in nicht wenigen Momenten und Facetten gescheitert ist.

 

 

Zwischen den Fronten

 

Zwischen den Fronten der Systeme stehen die Individuen, über die die allgemeinen Mächte hinwegrasieren, die ideell gestimmten Einzelnen handeln mit ihren Hoffnungen und Sehnsüchten, steigen in Kämpfe ein, geraten zwischen die Fronten, schlagen sich mit undurchsichtigen Gestalten und platten Interessenvertretern und Geheimdiensten= Menschenjägern herum, nachdem sie mit Auschwitz und Gulag schon dran waren. Die Dialoge lassen durchschimmern, dass die Möglichkeiten des Gelingens eines dritten, alternativen Weges stets die verhinderten, vereitelten sind. Auch wenn die Versuche zum Scheitern gebracht werden, im Danach wird dem Sieger durchaus um so mehr Niedergang und Verfall zum eigenen Schicksal.

 

Der Chor (Chorführerin: Iris Reinhardt Hassenzahl) und die Repräsentanten der Interessen vermitteln mit ihren Auftritten und Einzelstimmen Orientierung durch das Verwobene; sie sind die als Theater-Institution eingesetzte Aufklärungshilfe, sie schalten sich dazwischen. Die Grundstruktur des Stückes ist formalisiert, sie reduziert, wie es sein muss, um Aufklärung über den Moment zu transportieren, sie gestaltet auch plakativ; ganz entsprechend der hallenden Widrigkeit der Geschichtsstätten, Orte und Verhältnisse.

 

Geschichtliche Stationen, die das durchläuft sind – eingeleitet, begleitet, unterbrochen und finalisiert durch Eintritte der Kassandra -: Weimar, Aufbau Ost, Aufbau West, Das Kapital, 17. Juni, Geheimdienste und Verräter, Verhaftungen und Verhöre, Kalter Krieg, Gefängnis in der DDR oder im Westen; Dritter Weg, Studentenbewegung, Notstandsgesetze, RAF, Ökologie, Ende des Wirtschaftswunders, Ende der DDR, Rede an die Investoren. Mit dem letzteren wird es spannend, aufschlussreich, auch banal, denn es regieren die Geldströme, das Ende der Geschichte ist deklamiert. Dazwischen sind die tatsächlichen oder vermeintlichen Ideologien zergangen. Das Ganze der Welt liegt in Stücken

 

In der Welt ist alles, was zusammengehören würde, auseinander. Der Konflikt zwischen Systemen und Individuen, einzelnem und allgemeinen ist der zentrale Konfliktherd. Wie Individuen zwischen Ansprüchen, Interessen und Systemen zerrieben, aufgerieben und ausgeschaltet werden, das ist das Skandalon. Wäre Gelingen wirklich so unmöglich, wenn nicht allein Interessen, sondern menschliche Bedürfnisse die Vorhand hätten? Immer wieder werden die Parolen gedroschen. Die größte Verblendung besagt: 'Es gibt nichts Drittes' - gar kein Drittes -, nur: Feind im Osten/im Westen, Freiheit des Eigentums! Dazwischen steht: 'Ich bin hierher geflohen. Dieselbe Drohung stand auch dort, woher ich komme'.- Ignoranz und Gleichgültigkeit sind gewünscht.- 'Die Menschen haben genug von Ideen... wollen ihr Glück und wenn es nur ihr kleines Glück ist'; das Schrebergartenglück.

 

Bei allen Systemgegensätzen: 'bürokratisierte Diktatur' und 'das bestehende parlamentarische System' – sind doch beide unbrauchbar (nach Dutschke). Die Ökologiebewegung mahnt kassandrisch, sie ist dann nur 'wieder Rufer in der Wüste..ohne Volk', so lautet die Denunziation. Zuletzt – ist es die letzte Station? - wird Arbeit entbehrlich, wird unwert, da 'zu teuer'. 'Nun sagt man uns dass sich das Geld von selbst vermehrt'. Am Schluss steht also die Verwertung bis ins letzte Glied, bis auch die allerletzten Dinge oder Menschen die Hunde beißen. 'Was übrig bleibt entsorgen wir wir wickeln alles ab Fabriken Häuser Äcker und überflüssige Menschen'.

 

 

Kassandra sieht Kommendes

 

Auch am Ende stehen letzte Transformationen (die Aufführung arbeitet mit solchen) von Reden der Kassandra aus den Texten des Altertums in die heutige Zeit. Die letzte Rede geht an die Politik der Bestimmer dieser Welt, aber auch an die von ihnen Befohlenen: Die Voraussagungen dürften im wesentlichen aber als gleichgültig gelten, dürften kaum gehört werden wollen. Aus der Deklamation der Kassandra:

 

'Es werden kommen, die übrig sind

aus den von euch geplünderten Kontinenten

es werden kommen über die Meere

die ihr nicht auf eurer Rechnung habt

weil sie für euch ohne Wert sind

es werden kommen die Hungrigen

denn ihr habt ihnen das Land geraubt...'

 

Vorteilhaft sind Theaterabende, die kein gesellschaftliches Ereignis sind oder sein wollen, die ohne Sondereffekte auskommen und doch eine Erkenntnis vermitteln. Aber das ist Ansichtssache und hängt vom Typ ab.

 

Foto: Kassandras erstickter Schrei  (c) Veranstalter

 

Info:

'Untergänge.Kassandra', Ulrich Meckler, Gallus-Theater. Kommende Aufführungen: 18.-21.11.2015 20 Uhr ·Gallustheater Frankfurt, 60326 Frankfurt, Kleyerstraße 15. Tel. 069 7580600