Das Freie Schauspiel Ensemble Frankfurt bringt in Fulda ein gruseliges, aber doch sehr trockenes Theaterstück über die Finanzwelt

 

Hanswerner Kruse

 

Der als „Berserker“ gefürchtete Choreograf Johannes Kresnik („Ballett kann kämpfen“) hat im Sommer in der Berliner Volksbühne die „120 Tage von Sodom“ des Marquis de Sade als Tanztheater in der Bankerszene inszeniert. In einem riesigen Konsumtempel fallen die Banker hemmungslos übereinander her, zelebrieren geil alle nur erdenklichen sexuellen Perversionen, zerstückeln gefangene Globalisierungsgegner und fressen Säuglinge.

 

Dazu deklamieren sie einzeln oder chorisch wichtige Leitsätze der Finanzwirtschaft. Kresnik hat tatsächlich einen heftigen Skandal ausgelöst, indem er die obszöne Fratze der scheinbar abstrakten Finanzkrise bloßstellte.

 

Das absolute Gegenteil dieses provokativen Polittheaters präsentierte im Fuldaer Schloss das Frankfurter Ensemble. Frontal auf der leeren Bühne fläzen sich vier Banker, eine Bankerin und seitlich ein Chauffeur auf Lederstühlen. Die Zuschauer sitzen ihnen auf der Bühne ganz dicht gegenüber. Schnell, nachdenklich, abwechselnd berichten die Akteure von ihren Jobs in den Großbanken, in dem sie Milliarden verzockten: „Das war nicht die Regionalliga.“

 

Alle wussten, was sie taten, gegen jede Vernunft und kaufmännische Logik rasten sie auf Abgründe zu, keiner traute sich „nein!“ zu sagen. Alle waren sicher, der Staat hilft, „man war ja systemrelevant“. „Gier ist mehr als Habgier, denken sie an Begierde", verkündet die ansonsten eiskalte Frau Manzinger (Bettina Kaminski) und sexualisiert die Motive ihres Handelns: „Da fühlt man was, das kribbelt, das ist das Glück pur!“

 

Der Dokumentarfilmer Andres Veiel („Black Box BRD“) hat aus zahllosen Gesprächen mit ehemaligen Bankern herausdestilliert, was sie antrieb und wie sie funktionierten. Mit seiner Theater-Collage will er zeigen, was sind das für Leute, die gnadenlos die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen zerstören?

 

Besonders skrupellose oder absurde Formulierungen will man sich merken, doch die dramatisch gesprochenen Sätze rauschen schnell vorbei. Bei jedem neuen Bonmot hat man den alten schon vergessen. Eigentlich bringt die Aufführung keine neuen Erkenntnisse, man weiß das alles, selbst im „Tatort“ tauchen solche Finanzhaie auf. Die Tätigkeit der Banker wird nicht dargestellt, aber ihre Arroganz, ihr Wahn, „die Loslösung der Finanzwelt von der Realität“ wird atmosphärisch deutlich und zieht das Publikum in ihr Pandämonium hinein.

 

Nach der Pause wird es theatralischer, die Gruppe hockt in einem Keller ohne Tageslicht. Frau Manzinger gibt eine Erklärung ab, bevor sie in die oberen Etagen verschwindet: „Man kann nicht die ganze Branche für die Fehler Einzelner verantwortlich machen!“ Die übrigen Spieler sind nun ausgebootet und lassen ihre Hosen herunter - in echt. Eigentlich mache ihnen der Abstieg ja nichts aus, beteuern sie, doch sie hoffen, „oben“ noch einmal gebraucht zu werden.

 

Irgendwann kommt die Manzinger zurück und serviert Himbeeren für alle, denn wir sind ja im Himbeerreich (ein Begriff der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin über die kapitalistische Warenwelt). Die Dame schlüpft aus ihrem Rock, nun hat es auch sie erwischt. „Dabei hat sie das System noch verteidigt als sie schon im freien Fall war“, mosert ein Kollege. Zum Schluss preisen alle, ärmlich gekleidet, zu billigen Orchesterklängen mickerige Finanzprodukte an: „Solange die Musik spielt, tanzen wir!“

 

Es ist mutig, dieses überaus kritische, aber wenig unterhaltsame Stück im Schloss zu zeigen und ehrenwert, sich als Freies Theater engagiert diesem Thema zuzuwenden. „Das Himbeerreich“ ist kein vor Belehrung strotzendes Agitprop-Stück, sondern ermöglicht die Einfühlung in die Welt der Banker und ihr System, das wie naturgegeben erscheint: "Da kann kein Mensch mehr eingreifen, das ist ‚Natur', mit wem wollen sie reden?“

 

Ratlos entlässt das Ensemble die Zuschauer in die kalte Fuldaer Nacht.

 

In weiteren Rollen Stefan Maaß, Christian Ohmann, Thomas Pohn, Bernhard Bauer und Jürgen Beck-Rebholz

 

 

Foto: © "Freie Schauspiel Ensemble Frankfurt“

 

Hintergrund „100 % Hessen“

Neben dem Freien Schauspiel Ensemble reisen derzeit weitere neun freie hessische Theatergruppen unter dem Label „100% Hessen“ durch das Bundesland. Ihre von einer Jury ausgewählten Stücke für Erwachsene werden in großen und kleinen hessischen Städten gezeigt. www.madeinhessen.de