Was ein Foto aus dem Fotokarton meines Vaters evoziert, Teil 2/2
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Zwischenzeitlich waren die Männer im Glanz des frisch erstrahlten Baums zum verschärften Trinken übergegangen. Dabei erzählten sie sich Geschichten von den afrikanischen und europäischen Kriegsschauplätzen, an die sie das Schicksal verschlagen hatte. Ein jeder kannte die Begebenheiten bis ins Detail.
Allerdings wurden sie stets etwas verändert. Im Laufe der Jahre wurde auch ich gut mit ihnen vertraut und vermochte zu unterscheiden zwischen dem vermutlich wahren Kern und dem jeweils Hinzuerdachten. Doch trotz mancher Ungereimtheiten, die sich durch das freie Fabulieren einstellten, sorgten sie immer wieder für ausgezeichnete Stimmung.
Häufig drehten sich die Erzählungen um Frauen, die man in Brüssel, Tripolis, Rom oder Belgrad kennengelernt hatte und mit denen die Kriegskameraden kürzere oder längere Affären hatten oder vorgaben, sie gehabt zu haben. Allen Romanzen setzte der Kriegsverlauf ein häufig abruptes Ende, wenn man den Erzählungen glauben wollte. Mit Rücksicht auf meine Mutter schwärmte mein Vater nur in Andeutungen von den einstigen Geliebten und schilderte eher zurückhaltend deren weibliche Vorzüge. Aber ich hatte den Eindruck, dass meine Mutter ohnehin bestens informiert war. Und dass sie die Geschichten eher, wenn man ihrer Mimik trauen durfte, als Übertreibungen einstufte und die besonders heiklen, also erotischen, Einzelheiten bewusst überhörte.
Weniger zurückhaltend, stimmlich und in der jeweiligen Ausschmückung des Erlebten, waren Alfred und Heinrich. Ich prägte mir die Ausdrücke aus der Welt der erotischen Freuden genau ein und konnte später damit in der Schulklasse glänzen.
Neben den nostalgischen Rückblenden kamen aber auch immer tagespolitische Ereignisse zur Sprache. An Genaues kann ich mich, soweit es die frühen 50er betrifft, kaum noch erinnern, vor allem, weil ich damals nicht verstanden hatte, was von den Kameraden zum Teil kontrovers, zum Teil übereinstimmend kommentiert und diskutiert wurde. Durch die Jahre hindurch gab es jedoch einen Lieblingsfeind, und der war Konrad Adenauer. Ihm wurde unterstellt, ein Erfüllungsgehilfe Amerikas zu sein (Originalton: „Jede Woche fliegt er nach Waschington zum Befehlsempfang bei Eisenhauer“) und Deutschland erneut aufrüsten wollte. Was mir nachträglich als besonders bemerkenswert erschien, weil es sich um die Sicht ehemaliger Soldaten handelte, die sich trotz des Kriegs, dem sie entronnen waren, keinesfalls als Pazifisten verstanden. Angeblich sollte Adenauer auch in geschäftliche Großprojekte verstrickt gewesen sein. Seine Familie sei unter anderem an einer Zigarettenfabrik beteiligt gewesen, welche die „Overstolz“ produzierte. So war es selbstverständlich, dass die Flak-Veteranen zwar vielen Marken zusprachen, von Eckstein über Juno und Rothändle bis HB, es aber strengstens vermieden, Overstolz zu rauchen.
Die fröhliche Stimmung hielt trotz der einen oder anderen politischen Meinungsverschiedenheit an, bis sich der zweite und ebenfalls jährlich wiederholende Höhepunkt dieser Weihnachtsfeier ankündigte. Irgendeiner aus dem Kreis stellte die Gretchenfrage und löste damit die alljährliche Kontroverse aus:
"Sind die Guten aus dem Krieg zurückgekommen oder die Schlechten?"
Niemand konnte eine zufriedenstellende Antwort geben. Einerseits hielt sich jeder aus der Gruppe für gut, andererseits kannte man andere Gute, die gefallen waren. Und man wusste, zumindest vom Hörensagen, von Schlechten, die aus dem Krieg unversehrt zurückgekommen waren und denen es jetzt sogar besonders gut ging.
Ein positives, aber auch trauriges Beispiel für die Guten war Felix, ein Unteroffizier, der aus Wien stammte und sich wegen seiner Hilfsbereitschaft und Tapferkeit allseitiger Beliebtheit bei den Soldaten, Feldwebeln und Offizieren erfreut hatte. Nach dem unversehrt überstandenen Afrika-Einsatz war er jedoch in der Schlacht am Monte Cassino in Italien gefallen.
Der Obergefreite Alois hingegen war, wenn man den Äußerungen über ihn trauen wollte, ein typischer Vertreter der Schlechten. Er stand für einen Menschen, den man weder in der Armee noch im Zivilleben mochte und dem man nach Möglichkeit aus dem Weg ging. Die Männerrunde bezeichnete ihn als "stinkkatholisch" und „falsch“, anscheinend bedingte das eine das andere. Bei Feldgottesdiensten hätte er bezeichnenderweise als Messdiener fungiert. Er galt als nicht vertrauenswürdig, weil er nie seine eigene Meinung geäußert und sich allen, die etwas zu befehlen hatten, angepasst hätte. Während der wenigen Monate in britischer Kriegsgefangenschaft hatte er Englisch gelernt, was von den Leuten der Flak als Zeichen der Unterwerfung bewertet wurde. Ab dem Ende der 40er bis weit in die 50er Jahre hinein war er Angestellter im britischen Arbeitsamt in Dortmund gewesen, das für deutsche Zivilangestellte der Rheinarmee zuständig war. Bewerbungen aus dem Kreis der ehemaligen Afrika-Kämpfer lehnte er nach Kenntnis der hier versammelten Veteranen konsequent ab.
Obwohl ich mir als Kind über die Bedeutung des Soldatseins noch keine der Wirklichkeit entsprechenden Vorstellungen machen konnte, fiel mir doch ein Widerspruch auf. Alle in dieser Runde betonten mehrfach und jedes Jahr erneut, niemals einen Gegner getötet zu haben. Als ich 11 war, beim Treffen zu Weihnachten 1958, überlegte ich mir, nachdem ich die altgewohnten Beteuerungen wieder gehört hatte, wie denn ein Krieg funktionieren könnte, wenn niemand umgebracht würde. Damals bekam ich neben einem elektrisch steuerbaren Panzer, einer Armbanduhr und mehreren Abenteuerbüchern auch ein in Leder eingebundenes Notizbuch geschenkt; denn ich führte seit 1955 Tagebuch. Hier trug ich ein, was mir zum Thema Krieg einfiel. Noch bis zum Ende der 1960er Jahre habe ich meine diesbezüglichen Notizen von Zeit zu Zeit ergänzt.
Sieben Jahre später, im Sommer 1965, bewarb ich mich bei der Bundeswehr für die Offizierslaufbahn. Mein Vater hätte mich deswegen fast verprügelt und weigerte sich zunächst, den Antrag mitzuunterschreiben, denn damals wurde man erst mit 21 Jahren volljährig und alle Verträge bedurften der Zustimmung der Eltern:
„Bist du total bescheuert, dich freiwillig zu melden? Beim Barras (er hing an dieser alten Bezeichnung) ist man selten frei, aber muss immer willig sein!“
Am Jahresende 1965, nach der gewissenhaften Lektüre diverser Bücher über das Militär, hatte ich es mir anders überlegt und meine Bewerbung trotz bestandener Eignungsprüfung zurückgezogen. Stattdessen stellte ich einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Doch auch da war zu Hause der Teufel los.
„Wie stehe ich vor meinen Freunden und alten Kameraden da?“ tobte er. „Vater eines Drückebergers, eines Pisspottschwenkers, nein, nein, nein!“
Die Zwiespältigkeit der mit nostalgischen Erinnerungen vollgestopften Heiligen Abende offenbarte sich exemplarisch an der Person Hermann Görings. Einerseits galt der ehemalige Kampfflieger, preußische Innenminister und Reichsmarschall als Luftwaffenkamerad und genoss bei den alten Soldaten Respekt. Andererseits ließ sich seine Beteiligung an den NS-Verbrechen nach allem, was die Nürnberger Prozesse ans Licht brachten, nicht leugnen.
„Das mit den Juden hätten sie nicht machen dürfen“ war von Jahr zu Jahr das Resultat dieser Rückblenden in eine unheilvolle Zeit. Der Krieg als solcher, die Eroberung fremder Länder, die den Besiegten auferlegte Zwangsarbeit, all das wurde von meinem Vater und seinen ehemaligen Kameraden unausgesprochen akzeptiert. Statt am Großen und Ganzen zu zweifeln, wurden vermeintliche Nebensachen und privates Fehlverhalten kritisch, doch zumeist selbstgerecht infrage gestellt.
Die Diskussion, man kann auch sagen, der Streit über Nebensächlichkeiten, ging hoch her und mitunter fürchtete ich, dass er in Handgreiflichkeiten ausarten könnte. Mit der Intensität der Auseinandersetzung stieg der Alkoholkonsum. Auf und unter dem Esstisch reihten sich die leeren Bierflaschen aneinander. Deren herabhängende Bügelverschlüsse muteten traurig an. Sie unterstrichen die sich zunehmend einstellende Ödnis auf symbolische Weise. Meine Mutter war längst schlafen gegangen und ich musste mich krampfhaft wach halten.
Als der Alkoholgenuss das Sprechen und das Erinnern immer schwerer machte, trennte man sich. Danach kehrte bei uns die Stille der Heiligen Nacht ein.
Weihnachten 1959 fand dieses Treffen zum letzten Mal statt; denn Heinrich war im August 1960 48-jährig gestorben. Wir erfuhren davon erst nach Rückkehr aus den Sommerferien und wunderten uns, denn es hatte vorher keine Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung gegeben. Und Hans, der ewige Junggeselle, heiratete im Herbst desselben Jahres die Witwe eines anderen, mir nur oberflächlich bekannt gewesenen Kriegskameraden und bevorzugte es von da an, den Heiligen Abend in trauter Zweisamkeit zu verbringen.
Und damit endete Weihnachten als besonderes Ereignis im Jahreslauf der Familie. Offenbar gab es keine anderen Anlässe, am feierlichen und geselligen Beisammensein festzuhalten. Religiöse Bezüge hatte es für meine Eltern und mich ohnehin nie besessen. Folglich beschränkte sich die Anzahl der bewusst wahrgenommenen Heiligen Abende in meinem Leben auf acht und sie waren allesamt Ereignisse der Kinder- und frühen Jugendzeit.
Doch alljährlich im Dezember, wenn ich Menschen bei ihren Weihnachtseinkäufen und Festvorbereitungen beobachte, holt mich die Erinnerung an die Heiligen Abende mit den ehemaligen Afrikakämpfern doch wieder ein.
Wenn ich in den Schaufensterdekorationen der Warenhäuser einen geschmückten Tannenbaum sehe, warte ich unbewusst auf den Augenblick, in dem ein beherzter Mann die erste defekte elektrische Kerze auswechselt und die neue irgendeinem General widmet. Und wenn der Bundespräsident am Abend des ersten Feiertags im Fernsehen spricht, warte ich darauf, dass er den Zuhörern zumindest rhetorisch die Frage stellt, ob die Guten oder die Schlechten die Kriege überlebt haben. An Kriegen mit deutscher Beteiligung mangelt es über 70 Jahre nach dem Ende des Kriegs, den mein Vater und seine Kameraden erlebt und erlitten hatten, ja mittlerweile nicht mehr.
Foto:
Soldaten in der Cyrenaika 1942 . Der Vater des Verfassers - Hugo Mertens - in der Mitte, Hans links, Alfred rechts (c) (c) Mertens & Medien
Karte des ägyptisch-libyschen Grenzgebiets 1940/41 (c) wikipedia.de
Info:
Die von Erwin Rommel in Nordafrika geführten deutsch-italienischen Truppen setzten sich aus dem Deutschen Afrikakorps, sowie dem italienischen XX. und XXI. Korps zusammen. Die Ankunft der deutschen Truppen in Afrika („Unternehmen Sonnenblume“) zog sich dabei von Anfang Februar bis Ende Mai 1941 hin, so dass Rommel beim Beginn der Belagerung von Tobruk nicht über volle Divisionen verfügte, zugleich aber ständig frisch in Tripolis eingetroffene Verstärkungen zu den Belagerungstruppen stießen. Nach Wikipedia