Gebärdensprache fördert die Entwicklung der Lautsprache bei Kindern

Hanswerner Kruse

Schlüchtern (Weltexpresso) - Emma (18 Monate) hüpft auf dem Sofa herum, malt etwas, brabbelt vor sich hin: „Flora“, den Namen ihrer Tante, oder „geil“ kann ich heraushören. Vorsichtig kitzele ich sie ein bisschen und sie quietscht vor Vergnügen.


Als ich aufhöre und mit Paula, der Mutter, spreche, sucht Emma den Blickkontakt zu mir. Mit den Fingern macht sie präzise Bewegungen, die für ein Kleinkind von 18 Monaten ungewöhnlich sind: Sie hebt den Zeigefinger, dann dreht sie ihr Händchen mit Schwung herum. Das heißt „nochmal“ meint Paula, ich sollte jetzt weitermachen oder ihr die Gebärde für „fertig“ zeigen.

Mit den Händen kann Emma mehr als dreißig Begriffe „sprechen“, die sie seit dem 8. Lebensmonat gelernt hat. Darunter sind viele Gebärden für den Alltag, wie essen, trinken oder warten, aber auch etliche Tiernamen wie Schmetterling, Hase oder Fuchs. Wenn wir sie bitten, mach mal den Fuchs oder den Hasen, zeigt sie die Zeichen recht schlampig: Beim Hasen fasst sie sich lediglich locker an den Kopf, statt die Ohren anzudeuten. Beim Fuchs müsste sie die Nase verlängern, aber sie führt die Hand nur zur Nase. Zum Vorgeführt-werden hat sie nicht viel Lust, doch als Paula erzählt, wie Emma einst die Wörter lernte, zeigt diese beiläufig präzise die verlängerte Nase des Fuchses oder große Hasenohren.

Paula Stryi (27) ist in Schlüchtern aufgewachsen, hat hier ihr Abitur gemacht und in Gießen Sonderpädagogik studiert. Ein Schwerpunkt ihres Studiums war die Beschäftigung mit gehörlosen Menschen. Die haben ja ihre eigene - mittlerweile auch linguistisch und neurologisch als vollständige Sprache anerkannte - Zeichensprache. Drei Semester lernte Paula die Deutsche Gebärdensprache. Im Studium erfuhr sie, dass der kleinkindliche passive Wortschatz bereits sehr groß sein kann, die Kinder aber noch nicht ihre Bedürfnisse und Wünsche verbalisieren können.

Zufällig erfuhr die junge Mutter, die mittlerweile in Kassel wohnt, dass es Kurse gibt, um in rudimentärer Gebärdensprache mit nicht hörgeschädigten Kleinkindern zu kommunizieren. Gemeinsam mit einer Freundin besuchten beide mit ihren Kleinkindern den Kurs „babySignal“. In der Gruppe ging es sehr gemütlich zu, spielerisch und mit viel Singen lernten Eltern und Kinder lebenspraktische Begriffe, die den Erwachsenen wichtig waren. Die Kleinkinder erfreuten sich dagegen eher an den Wörtern (Gebärden) für ihre Kuscheltiere.
Emma wirkt entspannt, ist wenig knatschig und weiß nicht nur was sie will, sondern kann es auch ausdrücken oder „diskutieren.“ Sie schmeißt sich nicht auf den Boden, kreischt selten herum. „Wenn sie nachts Hunger oder Durst hat, dann schreit sie nicht“, berichtet Paula, „sondern sie setzt sich im Bett hin, macht auf sich aufmerksam und zeigt die Gebärde für essen oder trinken. Wenn sie nachmittags müde wird, gebärdet sie „schlafen.“
 
Für Paula ist die Weitergabe ihrer Erfahrungen eine „Herzenssache“, denn die Gebärden haben den Alltag der jungen Familie sehr erleichtert. Eltern auf dem Spielplatz sind oft fasziniert von der familiären Kommunikation. Aber mit eineinhalb Jahren ist es zu spät, um noch Gebärden zu lernen, weil die Kinder beginnen, sich mit Lautsprache zu verständigen. Mittlerweile ist übrigens auch durch Studien belegt, dass durch Gesten und Gebärden die Entwicklung der Lautsprache gefördert - und nicht gehemmt - wird. Emma ist dafür ein gutes Beispiel: Als Paula ihr eine Katze malt, ruft sie „Miau! Miau!“ und gebärdet freudig das Wort für Katze.

Foto: Emma wünscht sich „nochmal“ gekitzelt zu werden. Auf Wunsch der Mutter haben wir sie unkenntlich gemacht. (c)Hanswerner Kruse