Die Heinrich-Böll-Stiftung organisierte interdisziplinäre Tagung zu: 'Frei, flexibel, prekär' – 1. Tag
Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Am 20. Mai 2015 titelte die Frankfurter Rundschau: 'Prekäre Jobs fast der Normalfall, Vereinte Nationen prangern zunehmende Unsicherheit an/ Auch Deutschland betroffen'. Geurteilt hatte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), Organisation der Vereinten Nationen. Der Artikel ist online verfügbar, ein Lesen lohnt sich.
Besonders steht Amazon für die neu exekutierte Variante des Frühkapitalismus. Christian Krähling, Mitarbeiter bei Amazon, auf der Tagung der Heinrich Böll-Stiftung Hessen anwesend und Bericht gebend, will sich die erniedrigende Behandlung nicht mehr bieten lassen und fordert per Internet-Petition einen echten Tarifvertrag.
Der Raubtierkapitalismus, von dem Max Otte prägnant zu sprechen sich nicht scheut - ganz anders als angepasste Vertreter seines Fachs - geht zu Lasten der großen Zahl der Arbeitenden, auch der noch regulär und scheinbar sicher Beschäftigten. Ausgerechnet jene, die das Hauptquantum Arbeit auf der sozialen Stufenleiter leisten, werden schrittweise durch eine schäbige Verfügung über die menschliche Arbeit enteignet. Weil es der Modetrend und die Macht über die Arbeit möglich macht, kommt es besonders in den Minijobs zu einem gewöhnlichen Angriff auf einfachste Regeln des menschlichen Umgangs.
Die Aufzeichnung von Arbeitszeiten wird möglichst sabotiert und angefeindet, um Steuerhinterziehung und Sozialversicherungsbetrug als Geschäftsgrundlage weiterzubetreiben. Abendliche Büroreinigungskräfte bekommen Zeitkontingente aufgebrummt, in denen sie die vorgeschriebene Arbeitsmenge einfach nicht schaffen können. Feiertage bleiben unbezahlt, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wird dekretorisch ausgesetzt, das Nehmen von Urlaub wird zum Ausnahmerecht. Das geht, weil die geringfügig Beschäftigten sich als der Willkür Ausgelieferte leichter beugen. Merkwürdig, dass eine Zeiterfassung so schwierig sein soll. Die Eigenerfahrung reicht von der mechanischen Stechuhrkarte bis zur Erfassung durch Abtasten der nur noch vorbeigezogenen Karte. Die Facetten des modisch betriebenen Grauens auf der untersten Stufe der Arbeitsgesellschaft sind unbeschreiblich, derart unterirdisch, dass die alltägliche Vorstellung kaum hinreicht.
Die neue Unsicherheit
Die Tagung der Heinrich Böll-Stiftung hatte den Schwerpunkt auf die gelegt, die im kreativen Genre prekär unterwegs sind. An Zahl sind sie über die letzten Jahrzehnte enorm gewachsen. Seit 2000 wuchs allein die Designbranche um 93 Prozent. Ihre Arbeit führt in den sonst meist wenig attraktiven Arbeitsprozess etwas Magisches und Romantisches ein – cum grano salis. Es geht um eine Welt der Formen, Farben und Motive, die der traditionelle Arbeitsmensch eher etwas geringschätzt. Immer wieder fiel auf dem Podium der Name Pierre Bourdieu (1930-2002), der sich im frühen Stadium des postfordistischen Arbeitsverhältnisses (heißt: schwindendes Normalarbeitsverhältnis nach Tarif und Rückgang gewerkschaftlich ausgehandelter Betriebsverfassung) zeitig mit der Beschreibung der sich anbahnenden Prekarisierungsgsellschaft verdient gemacht hatte. Sein Thema wurde die Ungleichheitssoziologie des Poststrukturalismus am Ende der 60er.
Prekäre und unmenschliche Arbeitsverhältnisse gab es seit jeher; mit dem Auslaufen des Überlegenheitsversprechens des Westens aber kam es dazu, dass eine neue Arbeitsform umfassenderer Natur, die mit dem Begriff Prekarisierungsgesellschaft kurz und prägnant benannt ist, sich ausbreitete. Fünfzig Prozent sind gegenwärtig verunsichert, eine schleichende Abstiegsgesellschaft scheint sich auf breiter Front abzuzeichnen. Poststrukturalismus beinhaltet auch, dass die analysierende Begrifflichkeit bis zu einem bestimmten Grad die in Begriffe gefasste Wirklichkeit gleichzeitig auch wieder erzeugt. Das erklärt die Hartnäckigkeit z.B. des Neoliberalismus, der in den Siebziger Jahren anhub. Es liegt das Phänomen des sich selbst verstärkenden, sich selbst sichernden und sich selbst flächendeckend rechtfertigenden Systems vor, personalisiert auch in den Mainstream-Ökonomen, etwa der Mehrzahl der Wirtschaftsweisen (außer Peter Bofinger).
Das Neue am Heute hinsichtlich Prekariat bedeutet, dass es endemisch ist, eine breite Stimmung und Entwicklung impliziert, weithin öffentlich erkannt wird, die gesamten Verhältnisse zu bestimmen mindestens begonnen hat, quer zu den Schichtungen liegt, nicht mehr formbegrenzt ist, eine durchgehende Abwärtsspirale beschreibt und auf die Normalarbeitsverhältnisse übergreift; und eine Drohung mit sich führt, nach dem Motto: 'Zieht euch warm an, ihr kommt auch noch dran'. Damit ist eine 'neue Gemeinsamkeit' angedeutet, gleichsam ein Unsicherheits-Dispositiv von Foucaultschem, man könnte insofern sagen philosophischem Ausmaß. Wir leben möglicherweise und wahrscheinlich in dieser Hinsicht in der Zeit einer 'transversalen Konversion' (nach Oliver Marchart)
Die Matrix der Gesellschaft ändert sich
Hinzu treten kompensierende Strategien, die von einer neuen kreativ-szenischen Lebens- und Arbeitskultur ausgehen. Es wird die neue Lage auch beschönigt als Bereicherung, wenngleich auch als Abwertung zwar, aber als flexibles Modell, Modell 'existentielles Risiko'. Der Trend dehnt sich auch auf die Vorschule aus mit: Erreichen von Benchmarks, Milestones und der 'Kreativität von Vorschulkindern'. Es bilden und formieren sich ambivalente neuartige Gruppen, z.B. unter dem Aufruf 'Euro Mayday' mit Auftritten in London, Mailand, Berlin in den Zweitausendern; man erkennt sich als eine neue 'umfassende Natur'. Postmoderne Gesellschaftstheorie vermag die neuen alternativen Entwürfe 'neuer politischer Subjekte' aufzugreifen. Mit dem „Euromayday“ handelt es sich um 'Subjektivierungsformen', die auch kompatibel sind zu den Suggestionen der Diversifizierungs- und Fragmentierungsstrategie des Neoliberalismus, der damit den Gegenbewegungen den Wind aus den Segeln zu nehmen angetreten ist.
Brigitte Aulenbacher ging den traditionellen, von den Gewerkschaften und alten Arbeiterbewegungen betriebenen Androzentrismus an. Gegenwärtige Dimension sind zu erkennen: die Tatsache der prekären Familienernährerinnen, mit gut ausgeprägtem Selbstmanagement und durchgetakteter Selbstorgansiation; die Autonomie, die damit vonstatten geht ist leider keine von echtem Freiheitsgewinn. Nicht nur Arbeit ändert sich, sondern grundsätzlich auch das Familienleben im Zeitalter der entgrenzten Ökonomie.
Ein Problem für Gegenmaßnahmen ist, dass die neukoalitionären Gegenbewegungen schnell wieder verschwinden, auch deren Bindekräfte schleifen im Prekären. Eine Fragwürdigkeit ist auch, dass die Kinderförderung immer schon unter Verwertungs- und Produktivitätsaspekten gesehen wird. Es ist also ein umfassendes Paradigma am Werk.
Stephan Voswinkel berichtete erlebnisnah, wie 'reguläre' Opel-Arbeiter sich auf die Prekären, die in der Regel nicht zu Betriebsfeiern eingeladen werden und nicht wissen, wann sie Urlaub machen können, dahingehend beziehen, dass sie von einem „Die da draußen“ sprechen. Der Betrieb ist in zwei Welten geteilt.
Zwar war der 'Stechuhrkapitalismus' 'von früher' besser – während der jetzige schlechter ist -, aber ein nicht geringer Rest, zu dem immer auch schon die älteren Kreativen – sehr klein an Zahl damals - gehörten, hatte auch wenig Sicherheit. Allerdings ging der Trend damals der Tendenz nach vom Unsicheren zum Sicheren; etwas, das in der Gegenwart nur noch in bestimmten Zonen der aufstrebenden Schwellenländer auftritt. Die hochindustrialisierten Länder aber gehen nicht nur den Weg der Prekarisierung, sondern auch der Polarisierung - der ganzen Gesellschaft (Ausnahme vielleicht noch: Frankreich). Diese spielt sich mehr in der Tiefe ab, während die Prekarisierung überdeckend wirkt. Von der Prekarisierung sind indirekt mehr und mehr auch die gut Ausgebildeten betroffen. Deutsche Besonderheit: Hartz IV verbesserte nicht das Los der gut ausgebildeten Entlassenen, sondern machte sie tendenziell zu Fürsorgempfängern aufgrund der verschärften Zumutbarkeitskriterien – Qualifikation wurde damit durchgestrichen - und der Überführung der vorher sozialversicherungsrechtlich gesicherten Arbeitslosenhilfe in ein nach Kassenlage manipulierbares Arbeitslosengeld II als Manövriermasse.
In den angedeuteten Entwicklungen offenbart sich eine 'transversale' Bewegung zur Prekarisierung gleichsam als die Existenzform womöglich der Zukunft. Die Wende lag am Beginn der 70er als die Wende zum Finanzmarktkapitalismus anzufahren begann. Arbeit und Arbeitende wurden abgewertet, die Sockelarbeitslosigkeit wurde dauerhaft hingenommen bzw. einkalkuliert. Der politische Focus wendete sich ab von der Mehrheit der Bevölkerung hin zu den 'Innovationen' einer Minderheit von Finanzmarktakteuren.
Ein neuer 'Freiheitsgrad' aus Not und Bedrängtheit ergibt sich mit den neuen sozialen Initiativen des sich Beteiligens und Einmischens und der Selbstaktivierung aufgrund eines neuen Selbstwertgefühls der Betroffenen. Hiermit verbunden ist im Bereich der selbständigen Kreativen auch so etwas wie Selbstheroisierung. Sie sind Befristungen unterworfen (auch im öffentlichen Dienst) aufgrund immer nur kurzfristig bereitgestellter Finanzmittel (stets bedroht durch Steuerausfälle und finanzpolitische Krisensituationen).
Die Berufsverbände der Kreativen positionieren sich nicht arbeitsrechtlich, sondern in öffentlich dargestellter Interessenvertretung des jeweils einzelnen Selbst. Es herrscht eine Abneigung vor gegen eine gleichsam industriegewerkschaftliche Vertretung von Lebens- und Arbeitsinteressen. Das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit ist ein wesentlich konstitutives Merkmal der in den verschiedenen Feldern, 11 an der Zahl, tätigen Kreativen. Selbstverwirklichung ohne übergreifende Bindung überwiegt.
Info:
Frei, flexibel, prekär, Arbeit zwischen Selbstbestimmung und Unsicherheit. Interdisziplinäre Tagung, 29. und 30 Mai 2015, Frankfurt am Main, Mousonturm.
Übersicht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf dem Podium: http://www.boell-hessen.de/wp-content/uploads/2015/05/Programm.pdf