Die Heinrich-Böll-Stiftung organisierte interdisziplinäre Tagung zu: 'Frei, flexibel, prekär' – 2. Tag

 

Heinz Markert

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Seit den Siebzigern ging der Trend weg von der wertschöpfenden industriellen und der unspektakulär dienstleistenden Tätigkeit hin zu den schicken Finanzmarktaktivitäten, die immer wettenartigeren Charakter annahmen.

 

Das Ende der Goldbindung des Dollars, die Aufgabe des Systems der festen Wechselkurse und die Petrodollarschwemme gaben den Startschuss für eine von der Realität enthobene Form des überreichlichen, im Bankensystem geschöpften Geldes. Die erlahmte Wirtschaft wurde nicht durch Deficit Spending, also staatliche Investitionen, wieder flott gemacht – und damit Wertschöpfung wiederangeregt -, sondern anstelle trat eine Geizhalspolitik von Wirtschaft und Politik im Verhältnis zur Gesellschaft der soliden und ehrlichen Arbeit.

 

Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Die Unternehmen begannen langfristig Finanzbestände aus der Binnennachfrage abzuziehen, bzw. ihr vorzuenthalten – assistiert durch eine willfährige und ahnungslose Politik - , um sie in die finanzmarktgetriebenen Anlagemodelle („Finanzinnovationen“) umzuleiten. Die Finanztöchter von Siemens wurden wichtiger als der industrielle Kern des Unternehmens. Derartige Prozesse gerieten zum Ausbund des Wirklichkeitsverlustes. Die Kreativwirtschaft ist zum Teil eine der Reaktionsbildungen auf diesen längerfristigen Prozess, der Strom und Symptom für eine Verlagerung von der Realität in die Virtualität oder auch Abgehobenheit wurde. Wir leben in einer Sinn- und Unsinnsblase von Aufklärung und Propaganda. Damit verbunden ist die Abwertung der menschlichen Arbeit, die nun auch in den unsäglichen Arten der kleinlichen wie abgründigen Entwürdigung von tätigen Menschen ihren Ausdruck findet.

 

Illustrierend sei nur angemerkt, dass die Finanzwetten der heutigen Welt um etwa die Summe von 700 Billionen Dollar spielen, während das Sozialprodukt der Staaten nur etwa 77 Billionen Dollar erreicht ('Banken unter Kontrolle?', phoenix 28.05.2015).

 

 

'Das kreative Potential sitzt in der Falle'

 

Tag 2 fuhr fort mit den Einblicken in die Zwiespältigkeit der Entwicklung des Kreativpotentials zwischen Künstlertum und Armutsschwelle ('sehr unsichere Arbeit'). Alexandra Manske vermochte das reichhaltige Beziehungsgeflecht der Momente und Facetten des Schwebens zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Selbstentfaltung und neoliberaler Instrumentalisierung des Humankapitals Revue passieren zu lassen. Sie tat das eloquent und einsichtig wie nur denkbar, aber der feinen Aspekte waren doch zu viele für eine durch den Zeitrahmen begrenzte Einführung. Da aber nicht wenige alte Häsinnen und Hasen im Raum waren, war es kein Problem, die Orientierung zu behalten bzw. eine eigene zu finden oder zu gewinnen.

 

Die Künstlersozialkasse wird vielfach bedient aus Einnahmen zwischen 11 u. 13 000 Euro, was der Armutsschwelle entspricht, inklusive der sehr beschränkten Rentenansprüche, die sich daraus ableiten. Podium wie Publikum waren sich einig, dass diese Kasse unbedingt erhalten bleiben muss. Aber das orientierungslose politische Personal sägt zuweilen auch an dieser notwendigen und unverzichtbaren Einrichtung.

 

Was das Selbstverständnis anbetrifft: Die kreativ Tätigen sehen sich 1. durchaus mithin als 'Opfer' der ablaufenden Prekarisierung, 2. als 'Komplizen' flexiblen Kapitals auch der zerstörerischen Eigenschaften und 3. aber auch als 'UnternehmerInnen', jedoch nicht nach Schumpeters 'kreativer Klasse'; denn ein anderer Sinn prägt die Gegenwart. 'Sie müssen sich als Kleinunternehmer verhalten'. Entscheidend für die Gruppe ist das 'kulturelle Kapital', sie kennt keinen Königsweg, hat sowohl Quereinsteiger als auch solche mit Fachschule sowie andere ohne Abschluss. 10 Prozent sind Kleinstunternehmer, 28 Prozent 'erwirtschaften ärmlich', in den Nischen finden sich aber auch Superstars. Selbständigkeit ist ihr Positionierungsmerkmal, herkömmliche Verbindlichkeiten gelten ihnen weniger. Die Lebensführung ist 'hybrid' zwischen Leben, Beruf und Versuch der Weiterentwicklung, es herrscht 'Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit'. Immer wieder ist auf die Ungleichheitssoziologie des Poststrukturalismus eines Bourdieu zurückzukommen, die Kreativen existieren seltsam gebrochen zwischen aktiv und leidend, angelehnt an das etwas verklärte künstlerische Ich. 'Prekariat ist überall', es gibt kaum eine Wahl (mehr). Aufgrund der Schröder-Fischer-Ära sind zwischen 2003 und 2010 die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse rapide in die Höhe geschnellt.

 

Es besteht eine Verwandtschaft zwischen den jüngsten prekären Verhältnissen und dem Trend, der bereits die Kinder der sozialen Aufsteigermilieus der Sechziger Jahre antrieb, die immer auch etwas von den subkutanen Milieus in sich bargen und hatten, die schon jeher auf Unabhängigkeit und Autonomie pochten, die sie wenn nötig auch kompromisslos vertraten. Problem aber ist die Fortsetzung in der Folge der Generationen. Hier müsste sich die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens anmelden, die viel an Legitimität aufweist. Ein Charakteristikum der Kreativen ist auch, dass sie sich über eine Feldzugehörigkeit definieren. Ein nicht geringes Problem ist: alles was Leben und Berufung ausmacht unter einen Hut zu bringen, Professionalität und Weiterbildung, eine eventuell ihren Tribut fordernde Hochqualifizierung, das Versorgen der Familie, die Not des Broterwerbs. Immer bestimmt der 'Blick auf sich selbst', eine Reflexivität, das Selbstverständnis, das auch Selbstmissverständnisse in sich birgt, und: man denkt nicht berufsständisch, sondern allenfalls vernetzungspolitisch (Schwierigkeit für Koalitionen).

 

Thema von Nadine Sander war das „akademische Proletariat“, die Generation Zeitvertrag. Es untersteht dem Motto: jung, leistungsbereit, chancenlos; ist mit der Alternative konfrontiert: 'Professor oder überhaupt nichts'. 90 Prozent der wissenschaftlichen MitarbeiterInnen sind befristet. Der Mittelbau hat Promovierende, PostDocs und Juniorprofessuren. Die Anstellungen bis zu zu einem Jahr liegen bei 53 %, zwischen 1 und 2 Jahren bei 36 %, 2 und mehr Jahre haben 11 Prozent. Am Anfang ist das Verhältnis m/w 50/50, ab Habilitation liegt 'w' bei 27%, ab Professur bei 20%. Nach Recht gilt: 6 Jahre Befristung (ohne Prom.), nach Prom. weitere 6.- 6+6 ist die Schablone, aber durch Teilzeit ist eine Befristung um weitere 12 Jahre möglich, wie auch schon beim nicht-wissenschaftlichen Personal. Es gibt also Hintertüren. Nach der Pause: erneut wieder nur Befristung möglich; über 59 Jahre: auch weiterhin befristet.

 

Befristung ist familienfeindlich, da nur schwer Lebensplanung möglich. Aussichtsreiche Kräfte gehen der Wissenschaft verloren, wandern ab oder werden weggekauft. Andere Nachteile: fehlende Kreditwürdigkeit, prekäre Einkommenssituation, lückenhafte Partizipation, Bastelbiographie, Unsicherheitsverhältnisse, eventuell Alg II statt Alg, geringes Ansehen („Ach, Sohn studiert immer noch“). Am schlimmsten ist es mit dem Verlust von guten WissenschaftlerInnen.- Die Politik scheint damit kein großes Problem zu haben, dem Untertan gebührt es eben nicht anders. 'So ist es nun mal'. Und das in der Bildung, dem wichtigsten Gut. Auch Gast- und Vertretungsprofessuren kommen nachher der Wirtschaft oder Verbänden zugute. Wissenschaftsnation Nr. 1, das war einmal.

 

Das Prekariat ist für die Migrantinnen, trotz guter Ausbildung schon lange eine spezifische Realität. Wie lange hat es sich hingezogen, bis ausländische Abschlüsse von Ärztinnen endlich Anerkennung erhielten, Jahrzehnte! Verschleuderung von Qualifikationen – sagt aus, wer politisch das Sagen hat. In den Raum gestellt sein möge noch: das Templiner Manifest und der Herrschinger Kodex zum Thema. Einsicht hierzu liefert das informelle Netz. Migranten und Migrantinnen stammen jetzt immer öfter aus der Mittelschicht.

 

 

Koalitionen bilden

 

Die Notwendigkeit und Überfälligkeit von Koalitionsbildungen und gemeinsamen supranationalen Kampagnen wurde zum Thema, ausgeführt von Brigitte Aulenbacher.- Streiktage – im Großen? - anberaumen, übliche 'Container' verlassen, der Ökonomisierung, auch nicht vermarktbarer Sektoren, entgegentreten. Grenzen sind zu überschreiten, weil auch die transnationalen Übermächte Grenzen überschreiten. An der Zeit wäre die Reklamierung der Konnexion von Menschenrecht und Sozial- wie Arbeitsrecht (auch Unternehmensrecht). Eine Gerechtigkeitsdiskussion steht an. Aus dem Publikum wurde gefordert, den Begriff der Solidarität wieder mehr zur Losung zu erheben.

 

Hartmut Seifert wies darauf hin, dass die atypischen Beschäftigungsverhältnisse aufgrund ihrer langfristigen Folgen sich als gesellschaftliche Zeitbombe erweisen könnten. Männer haben die höheren Löhne, die Gewerkschaften haben Frauen links liegen gelassen. Altersarmut wird dramatisch zunehmen, es ist ein Problem, das als dickes Ende noch nachkommt. Es herrscht eine Gewöhnung an degoutante Zustände. Die Expansion der Atypischen ist 'zum Stillstand' gekommen, Betriebsräte 'haben durchsetzen geholfen'. Knappheit am Arbeitsmarkt kann unterstützend mitwirken. Psychologisch haben wir eine Zweiklassengesellschaft mit der Teilung in Prekariat und - noch - Geschützte.

Der Mindestlohn bringt im Hinblick auf Löhne weiteren Druck aufwärts. Kommen müsste die Pflichtmitgliedschaft in allen Sozialversicherungssystemen, auch für Selbständige. Für die Menschen gleichsam zweiter Arbeitsklasse muss es ausgleichende Risikoprämien geben wegen: angegriffener Gesundheit, Verarmung, Arbeitslosigkeit, geschmälerter Rente (für Hartz IV-Empfänger werden nur symbolisch Ersatzbeiträge abgeführt!). 'Leiharbeit braucht Bonus'.

 

Minijobs sind die Falle schlechthin, besonders für Frauen, die sie traditionsgemäß mehr einnehmen. Die Renten, die sie nach sich ziehen, sind indiskutabel. Kommen muß Equal-Pay für Arbeiten im Lohndumping, ab dem ersten Tag, nicht erst ab dem 9. Monat, wie z.Zt der Fall. Sozialversicherungsbeiträge sind voll zu entrichten, nicht gemindert. Die atypischen Arbeitsverhältnise sind mit Subventionen verbunden. Hiermit wird gegen Marktwirtschaft und Wettbewerb verstoßen und Klientelwirtschaft betrieben.

 

Themen wie 'Die Zukunft des Sozialstaates', früher gang und gäbe (Zukunft wurde als ein Ernstes gesehen), sind heute passe. Man orientiert sich an den USA, wo gelernt wird, wie man Betriebsräte und Gewerkschaften draußen hält. Aber: 'Konferenzen reichen nicht'.

Selbst Ärzte und PflegerInnen finden sich mittlerweile in Leiharbeiterteams.

 

Gewerkschaftspolitik muss aufsuchend werden, die Aufgesuchten sollten keine Gewerkschaftsmitglieder sein müssen. Traditionelle Organisationen müssen sich öffnen.

Was fehlt, sind beständig vernetzte internationale Akteure der Verteidigung von Rechten der Arbeit, die aus der Erklärung der Menschenrechte hervorgehen bzw. sich ableiten. Die heutigen Diskurse sind noch immer zu nationalistisch. Die Betonung auf 'Wettbewerb' ist ein nationales Format. Abschließend noch zu sagen: das Plakat mit 'Frei, flexibel, prekär' der Heinrich Böll-Stiftung war eine Bereicherung fürs Frankfurter Stadtbild.

 

Foto: Heinz Markert

 

Info:

Frei, flexibel, prekär, Arbeit zwischen Selbstbestimmung und Unsicherheit. Interdisziplinäre Tagung, 29. und 30 Mai 2015, Frankfurt am Main, Mousonturm

Übersicht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf dem Podium: http://www.boell-hessen.de/wp-content/uploads/2015/05/Programm.pdf