Wenn das Wohnen zunehmend zu einer Ware auf dem „freien“ Markt wird, ist der nächste Schritt nicht weit: Dann ist das Leben auch Handelsgut.
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Boden, auf dem die Häuser stehen, in denen wir wohnen, lässt sich nicht reproduzieren wie ein Fahrrad, ein Automobil oder ein Computer. Er ist nur begrenzt verfügbar.
Seine Qualität ist der geologischen Entwicklung (Grundwasser, Erdschichtenbeschaffenheit samt Erdbeben etc.) unterworfen und weltweit gesehen sind längst nicht alle Flächen nutzbar zu machen, was vom Klima, der Geologie und vor allem von der Verfügbarkeit von Wasser und Energie abhängt.
Diese Eigenschaften teilt der Boden mit dem menschlichen Leben. Es ist da und trotz der relativ wenigen Jahrzehnte, die es jeweils dauert, ist es von biologischen und gesellschaftlichen Einflüssen umgeben und von diesen abhängig, wird gar von ihnen bedroht.
Immerhin wird das Leben des Menschen in Staaten mit demokratischer Verfassung formalrechtlich vor dem Zugriff anderer geschützt. Aber sein Lebensraum, also der Boden, die Luft, das Wasser etc. sind längst Bestandteile eines wirtschaftlichen Denkens geworden, das verharmlosend als Marktwirtschaft bezeichnet wird.
Der Boden in Frankfurt am Main, der Geburtsstadt Goethes, kostet heute mindestens zehnmal mehr als der in Winsen an der Luhe (der Heimat Johann Peter Eckermanns, seines engsten Vertrauten). Dabei ist die Luft in Winsen vermutlich weniger belastet als die in Frankfurt und die Qualität des Wassers mindestens gleichwertig, eher besser. Aber Winsen ist kein Finanzplatz, kein internationales Verkehrsdrehkreuz und auch die Niederlassungen großer Firmen sind überschaubar. Deswegen drängt es nur wenige Menschen nach Winsen. Im Gegenteil: An jedem Arbeitstag brechen morgens Scharen von Pendlern in Richtung Hamburg auf. Der Marktwert von Winsen ist mäßig, ebenso wie die Preise für unbebauten und bebauten Boden.
Folglich beeinflusst der so genannte freie Markt den Wert einer menschlichen Lebensgrundlage, die eigentlich keine Ware sein dürfte, weil sie nicht vermehrbar ist. Wäre es angesichts der immensen Probleme, die der Handel mit dem Boden vor allem in großen Städten hervorruft, nicht eine Verfassungsverpflichtung (Artikel 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“), ihn aus dem Handel herauszunehmen, gar diesen Handel definitiv zu verbieten?
Wer den Boden, an dem er/sie Eigentum erworben hat, aufgeben will, könnte ihn zu einem staatlich festgesetzten Bodeneinheitswert tauschen: 500 Quadratmeter Frankfurt gegen 500 Quadratmeter Winsen oder umgekehrt (nur als Beispiel). Und wer nicht tauschen möchte, weil er/sie eine Mietwohnung bevorzugt, könnte ihn zum Einheitswert veräußern, müsste aber eine Grundverkaufs- bzw. Grunderwerbssteuer entrichten, deren Höhe sich mindestens am vollen Umsatzsteuersatz orientierte. Mit dieser staatlichen Einnahme könnten dann zusätzliche Wohnungen gebaut werden.
Sicherlich: Ein derartiges Verständnis von Grund und Boden würde einige Tausend Immobilienhändler dazu veranlassen, ihren Lebensunterhalt künftig mit reproduzierbaren nützlichen Waren oder mit sinnvollen Dienstleistungen zu verdienen. So wie das Millionen Menschen bereits tun bzw. tun müssen. Und mutmaßlich würde jene Minderheit, die bislang eine deutliche Mehrheit wirtschaftlich kujonierte, das Ende der Freiheit, die Entwertung aller Werte und das Zusammenbrechen des Staats lautstark beklagen.
Ja, tatsächlich wäre das ein Systemwechsel. Aber ohne einen solchen oder ähnlichen würde am Ende dieses Jahrhunderts die Bundesrepublik ein Staat sein, in dem die Mehrheit seiner Einwohner ohne wirkliche Lebensrechte und echte Lebensperspektiven vegetieren würde. Ganz zu schweigen von populistischen Nichtdemokraten, die ihr eigenes Süppchen auf dem Elend anderer kochen würden - oder es zumindest versuchten.
Wenn ich aus meiner Wohnung in Frankfurt-Sachsenhausen aus dem Fenster sehe, fällt mein Blick auf einen Wohnturm mit geschätzten 70 bis 100 Luxus-Eigentumswohnungen, der am Ende dieses Jahres bezugsfertig sein wird. Auf einer vergleichsweise geringen Fläche wird mindestens ein (mutmaßlich großvolumiger) PKW zu jeder Wohnung gehören und die Straßen im Quartier noch unpassierbarer machen. Der gesamte Energiebedarf des Riesenhauses wird mindestens dem eines Dorfes in der Wetterau entsprechen, die Emissionen denen eines mittelgroßen Industrieunternehmens, vom Wasserverbrauch ganz zu schweigen. Falls dort ein Brand ausbräche, wäre ein nennenswerter Teil der Frankfurter Feuerwehr durch den Einsatz blockiert und könnte woanders nicht helfen, der Verkehr in Sachsenhausen würde über Stunden, vielleicht Tage zusammenbrechen, der Frankfurter Süden wäre von einer Rauchwolke verhüllt, und die Strukturen der benachbarten Krankenhäuser wären überfordert. Alles zu Lasten der anderen Einwohner. Doch dem nicht genug: Im Europaviertel am Rande des Messegeländes soll ein ähnlicher Luxus-Wohnturm entstehen.
Einer der politisch Verantwortlichen ist der bisherige grüne Bürgermeister und Planungsdezernent Olaf Cunitz (der vermutlich bald abgewählt wird). An seinem Beispiel zeigt sich, dass Ökologie (Lehre vom Haushalten) nur sehr wenig mit gelegentlich notwendiger Wohnverdichtung zu tun hat, sondern vor allem mit diversen sozialen Fragen, die vor dem Bau von Wohnungen, die sich nur wenige leisten können, unbedingt gestellt und überzeugend beantwortet werden müssen.
Foto: Der neue Henningerturm © Mertens & Medien
Info:
Frankfurter Rundschau
Die Artikelserie „Wie wollen wir wohnen?“ hat am 23. April 2016 begonnen und wird vier Wochen laufen.