Teodor Currentzis leitete die Berliner Philharmoniker mit Verdis Requiem
Kirsten Liese
Berlin (Weltexpresso) - Wohl kaum ein anderer spaltet die Klassikszene derzeit stärker als der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis, den ich nun anlässlich seines Debüts mit den Berliner Philharmonikern erstmals live erlebte. Die einen vergöttern ihn wie einen Heilsbringer eines erstarrten Betriebs, die anderen stören sich an seinem exzentrischen Auftreten und interpretatorischen Eigenheiten. Mir erscheinen beide Extreme übertrieben.
Neben mir in der Philharmonie saß ein Mann um die 40, der mich, kurz bevor das Orchester auftrat, fragte, was für ein Stück auf dem Programm stünde. Verdattert schaute ich ihn an, hatte sich dieser Zuschauer tatsächlich blind eine Karte gekauft? Mir könnte das nicht passieren, beispielsweise würde ich ein Konzert mit einem Programm, das mir nicht zusagt, meiden, selbst wenn meine Favoriten dirigieren. Aber dieser Mann legte nach, ich bin wegen Currentzis gekommen...
Ich hatte zuvor nur einmal im Fernsehen eine Übertragung von Mozarts Oper „Idomeneo“ aus Salzburg unter Currentzis‘ Leitung gesehen, diese Einstudierung gefiel mir nicht, weil dort einige meiner Lieblingsarien angesichts von Temposchwankungen und dynamischen Eigenheiten ziemlich aus dem Ruder gerieten.
Verdis Requiem nun, mit dem Currentzis in Berlin seinen Einstand gab, gefiel mir ungleich besser. Klanglich war es sogar überwiegend herausragend, dies auch und vor allem dank exquisiter Solisten! Allen voran mit der aus dem Kaukasus kommenden Sopranistin Zarina Abaeva galt es eine Weltklasse-Interpretin zu entdecken, die mit so überirdisch schwerelosen luziden, strahlklaren Kopftönen aufwartete wie sie seit Gundula Janowitz keine mehr zu bieten hatte, noch nicht einmal Krassimira Stoyanova, die in dem sonst so grandiosen Verdi Requiem unter Riccardo Muti im Sommer in Salzburg in der Höhe einen seltsam engen Sopran hören ließ.
Aber erst noch einmal zu Currentzis: Was beim Konzert mit den Berlinern hör- und sichtbar wurde, war ein unbändiger Ausdruckswille. Der Charakter der Musik kommt bei ihm, insbesondere wenn sie lyrisch und leise wird, immer zu ihrem Recht. Das zeigt sich schon im „Introitus“, das Currentzis geheimnis- und spannungslos ganz aus dem Nichts kommen lässt. Der gemeinsame Atem von Musikern, Chor und Dirigent ist in jeder Phrase zu spüren, jedes Motiv wird minutiös ziseliert. Etwas weniger glücklich war ich mit dem „Dies Irae“, es kam mir eine Spur zu schnell und zu hart vor, tönte mehr nach Strawinsky als Verdi, ebenso erlebte ich das „Sanctus“. Ansonsten aber konnte sich die Musik bei gut gewählten Tempi bestens im richtigen Ausdruck entfalten. Urteile ich alleine nach den Klängen, die meine Ohren erreichten, dann war in dieser Wiedergabe vieles genauso gut wie bei dem genialen Verdi-Dirigenten Muti zuletzt in Salzburg. Dann wurde ich berührt von dem schwermütigen Fagott-Solo, das mit den Solisten genau im „Quid sum miser“ harmonierte, von der lyrischen, zärtlichen Tenor-Arie „Ingemisco tanquam reus“ (berührend mit Wohllaut vorgetragen und ebenfalls eine Entdeckung: Sergej Romanowsky), dem furchteinflößenden, bebenden Bass-Solo „Confutatis maledictis“ (große, profunde Stimme: Evgeny Stavinsky) und den langen hohen Schwebetönen der Sopranistin im „Offertorium- Domine Jesu“ zu zartesten Begleitstimmen der Violinen.
Was mir nicht gefiel, war in der Tat das sehr exzentrische Auftreten von Currentzis. Zu welchem musikalischen Ausdruck auch immer befindet er sich wie ein Hampelmann in permanenter Schwingung mit seinem Körper, wippt von einem Fuß auf den anderen, tanzt, bewegt sich beim Dirigieren mal vor und hinter das Pult, um dichter an den Chor herantreten oder auch wieder weiter nach hinten zurück- und in dichteren Kontakt zu den Solisten treten zu können. Und verzichtet deshalb gleich ganz auf ein Podest. Ich kann dieses Bedürfnis, mit der Musik mitzugehen und sie energetisch auszuleben, verstehen, aber es bringt eine Unruhe auf das Podium, die besonders dann stört, wenn die Musik Stille ausdrückt. Noch dazu dirigiert der Grieche überflüssigerweise die Sänger auch dann, wenn das Orchester nicht spielt.
Mitunter kommt es in solchen Momenten dann auch zu kleinen Unstimmigkeiten wie zu Beginn des „Agnus Dei“, wenn Sopran und Mezzo ihr Duett schneller anstimmen, als es Currentzis recht ist, der ein paar Takte Mühe hat, alle Beteiligten zusammenzuhalten.
Aber das sehe ich dem 47-Jährigen gerne nach, erlebe ich hier doch seit langem endlich einmal eine starke Dirigentenpersönlichkeit unter 60 Jahren! - Einen Bekenntnismusiker, der die Musik erleben und sich von ihr berühren lassen will.
Zur Erinnerung: Der geniale Rumäne Sergiu Celibidache tanzte, sieht man sich alte Dokumentationen an, als junger Mann nach Kriegsende im Titania-Palast auch beinahe wie ein Derwisch am Pult der Berliner Philharmoniker. Jahrzehnte später wandelte er sich um 180 Grad, sagte, er hätte als junger Mann keine Ahnung von der Musik gehabt, dirigierte mit zunehmend sparsameren Bewegungen und wirkte mit Mitte 70 wie ein Fels in der Brandung mit dem Ausdruck allergrößter Ruhe und Gelassenheit.
Auch alle anderen großen noch lebenden Dirigenten, die Ruhe auf dem Podium ausstrahlen und sparsamer dirigieren, sind wesentlich älter als Currentzis, sei es nun Muti (78), Barenboim (77), Haitink (90), Thielemann (60) oder der soeben verstorbene Mariss Jansons (76).
So gesehen habe ich Hoffnung, dass die exzentrischen Bewegungen bei Currentzis mit wachsendem Alter auch noch abnehmen könnten.
Ein Gespür für die ideale Besetzung hat dieser „Radikalist“, wie ihn der „Tagesspiegel“ nennt, jedenfalls schon jetzt: Außer der schon erwähnten phänomenalen Zarina Abaeva, die meine Erwartungen so sagenhaft übertraf, begeisterten mich auch die übrigen hier Versammelten und ganz besonders auch die Mezzosopranistin Annalisa Stroppa, manch einem schon als „Carmen“ in Bregenz aufgefallen, die als Einspringerin kam und mit einem herrlich warmen Timbre und der für Mezzos keineswegs selbstverständlichen schlanken Stimmführung für sich einnahm.
Als eine sehr kluge Entscheidung erwies es sich bei alledem, Sopranistin Abaeva im „Libera me“, in dem sie viel im Wechsel mit dem Chor singt, in den Chor hinein nach hinten zu platzieren. Die Kommunikation von Chor und Solistin gestaltete sich dank dessen optimal, die engelsgleichen Pianotöne der Sängerin waren von einer solchen Leuchtkraft, dass sie mühelos über alles hinwegstrahlten.
Eine Klasse für sich war bei alledem der von Currentzis 2004 in Nowosibirsk gegründete musicAeterna Choir, der mit seiner Präzision und Klangfarbenvielfalt anderen Spitzenchören wie dem Berliner Rundfunkchor, dem Rias Kammerchor oder dem Wiener Arnold Schönberg Chor in Nichts nachsteht.
Auf die weitere Entwicklung des Dirigenten bin ich gespannt. Unter den heutigen, lebenden Dirigenten der jüngeren Generationen unter 60 ist es jedenfalls einer der wenigen, der mich seit langem überzeugt. Den finalen Jubel in der Berliner Philharmonie hatte er sich verdient.
Foto:
Teodor Currentzis
© Stephan Rabold