Kirsten Liese
Dresden (Weltexpresso) - Ein bisschen kommt es mir so vor, als wäre ich aus einem langen Winterschlaf erwacht. Nach Jahrzehnten, in denen ich die „Meistersinger“ fast gar nicht mehr auf der Bühne sehen wollte, weil sie nur noch in hässlich-tristen Inszenierungen zu erleben waren, die nahezu ausnahmslos in Bezug zu der unrühmlichen Rezeptionsgeschichte in der NS-Zeit standen, etabliert sich nun in Dresden endlich wieder eine Produktion, die das Werk von allem, was ihm angelastet und übergestülpt wurde, befreit hat und in seiner ganzen Herrlichkeit wieder auferstehen lässt.
Ihre viel beachtete internationale Premiere erlebte diese Aufführung schon im vergangenen Frühjahr bei den Osterfestspielen Salzburg, nun ist sie in Dresden angekommen, wo ich sie mir gleich noch zwei Mal angeschaut habe, dies schon der grandiosen musikalischen Einstudierung wegen.
Alle, aber auch wirklich alle Mitwirkenden - Musikerinnen und Musiker der Sächsischen Staatskapelle und des Staatsopernchors (Einstudierung: Jan Hoffmann) sowie des trefflichen Sängerensembles bis in so kleine Rollen wie dem Bäcker Fritz Kothner (auffallend große Stimme: Oliver Zwarg) oder dem Nachtwächter (Alexander Kiechler) hinein - widmen sich ihrem Part hingebungsvoll und begeistert, lassen sich von der Musik berühren und verzehren sich, angeleitet von ihrem genialen Dirigenten Christian Thielemann, minutiös für jedes noch so kleine Motiv.
Bei jeder Aufführung werde ich auch immer wieder auf neue Details aufmerksam, die mir zuvor noch gar nicht so bewusst waren: auf das schöne Cello-Solo zum Beispiel, das gleich nach dem Vorspiel die Choral-Verse der Kirchengemeinde verbindet oder auf die zarte lyrische Hornmelodie, die sich erhebt, als sich die einzelnen Meister namentlich nacheinander vorstellen.
Das Einmalige dieser Einstudierung liegt aber auch darin, wie Thielemann die Dichtung in ihrer Bedeutsamkeit und im Atmosphärischen unterstreicht, wenn er die Musik vor ausgewählten Phrasen leise abebben lässt und kurz anhält, so dass zum Beispiel Evchen ihren zärtlichen Flirt mit Sachs („Könnt’s einem Witwer nicht gelingen?“) oder Sachs besondere Momente in seinem Fliedermonolog („Der Vogel, der heut sang, dem war der Schnabel hold gewachsen“) ganz aus der Stille ansetzen kann.
Auf eindrucksvolle Weise gibt es in dieser musikalischen Textur auch Doppelpunkte und Ausrufezeichen, insbesondere nach dem Wach-Auf-Chor, der, gefühlte fünf Minuten im Fortissimo erstrahlt. Was für ein Moment!
Überhaupt hat in dieser ungemein klaren, transparent gehaltenen Einstudierung jedes Instrument und jede Orchestergruppe ihren Auftritt, besonders viel beschäftigt sind die Bläsersolisten, so dass man gut versteht, dass Christian Thielemann ihre Soli jeweils auf zwei Spieler aufgeteilt hat: Jeweils einer übernimmt sie in den Akten eins und zwei, der jeweils andere die Soli im langen dritten Akt. Alle empfehlen sich mit absoluter Weltklasse, so dass sie es verdient haben, einzeln namentlich aufgeführt zu werden: Bernd Schober und Juan Pechuan Ramirez (Oboe), Wolfram Große und Robert Oberaigner (Klarinette) und Joachim Hans und Thomas Eberhardt (Fagott), nicht zu vergessen die makellos intonierenden Hörner Jochen Ubbelohde und Robert Langbein.
Dass ich in der Aufführung am 2. Februar besonders auf den Tenor Sebastian Kohlhepp achtete, hatte freilich damit zu tun, dass die Dresdner Semperoper diese Vorstellung - und das finde ich einen sehr sympathischen Zug in unserer sonst so geschichtsvergessenen Hochkultur- dem kurz vor der Jahreswende verstorbenen Tenor Peter Schreier widmete, der in dieser Paraderolle seinerzeit neben Theo Adam an diesem Hause geglänzt hatte.
Vergleichen sollte man die Beiden nicht, sie haben unterschiedliche Persönlichkeiten, und Kohlhepp hat zur Premiere von Thielemanns Produktion in Salzburg in dieser Partie erst debütiert. Aber das „Blumenkränzlein aus Seiden fein“ sang er diesmal ganz besonders lieblich und schön unter Einsatz von viel Kopfstimme.
Was aber wären diese „Meistersinger“ ohne den phänomenalen Georg Zeppenfeld? Nach nur fünf Vorstellungen scheint für ihn der Schuster Sachs, als der er in Salzburg debütierte, schon eine Paraderolle geworden zu sein. Sichtlich vergnügt foppt er den wenig glückreichen Werber Sixtus Beckmesser, wenn er als dessen nächtlichen Gesang mit seinen Hammerschlägen stört, bewegend gibt er dem Widerstreit seiner Gefühle im dritten Akt Ausdruck, hin- und hergerissen zwischen väterlicher Fürsorge für den Junker Stolzing und seiner Liebe zu Eva, auf die er verzichtet, um dem Glück der jungen Leute nicht im Wege zu stehen. Und den Fliedermonolog singt er so berückend schön, dass man ganz weit in der Aufführungsgeschichte zurückgehen muss, um sich an jemanden zu erinnern, der ihn vergleichbar ausdrucksstark und lyrisch gestaltete wie ein Bernd Weikl zum Beispiel.
Sie merken schon, diese Rezension läuft auf eine Liebeserklärung an die „Meistersinger“, an die hervorragenden Sänger, Christian Thielemann und seine Sächsische Staatskapelle hinaus.
Zudem gefällt mir auch die Inszenierung von Jens-Daniel Herzog, an der ich am Salzburger Premierenabend noch ein paar Kleinigkeiten auszusetzen hatte, inzwischen richtig gut. Das mag daran liegen, dass Mathis Neidhardts Bühne in der Semperoper noch stärker wirkt als auf der riesigen 100 Meter langen Bühne in Salzburg. Damit geht auch eine andere Wahrnehmung einher. Die Konstellation Theater-auf-dem-Theater, die mich anfänglich etwas irritierte und verwirrte, ist inzwischen für mich in den Hintergrund gerückt. Schon nach dem ersten Bild mit einer mittelalterlich kostümierten Gemeinde in den Bühnendekorationen einer Kirche lösen sich die Zuschauersitzreihen auf. Und fortan sehe ich in dem nachgebildeten Theaterraum samt Proszeniumslogen, die denen der Semperoper gleichen, Bühne, Werkstätten, Künstlergarderoben, Probebühne und Intendantenbüro nur noch den passenden Ort eines Geschehens, in dem die Kunst von zentraler Bedeutung ist. Die Handlung um den Ritter Stolzing, der vor einer Prüfung steht, um die Frau seines Herzens heiraten zu dürfen und dazu einen Weg finden muss, als Außenstehender in eine traditionsreiche Gesellschaft aufgenommen zu werden, erzählt Herzog ganz wahrhaftig und berührend.
Bei alledem vermitteln sich dank heutiger Figuren unübersehbar die Spannungen unserer heutigen gespaltenen Gesellschaft, in der sich zunehmend die Jungen gegen die Generation ihrer Großeltern auflehnen, - dies bisweilen erschreckend rüde wie in dem Lied von der Oma als „Umweltsau“, mit dem der WDR-Kinderchor kurz vor der Jahreswende an die Öffentlichkeit ging. Dazu passt dann sogar das verstörende Schlussbild in Herzogs Inszenierung, in dem Eva und Stolzing der übrigen Gesellschaft eine Absage für ihre Ideale erteilen und das Weite suchen. – Auch wenn Wagners feierliche Musik die Utopie einer ausgesöhnten Gesellschaft feiert.
Ein großer Trumpf ist freilich auch der trefflich aufgelegte Adrian Eröd, der den Stadtschreiber Beckmesser in seiner ganzen Tragikomik facettenreich auslotet, sich köstlich wichtigtuerisch aufplustert, in seiner einfältigen Tölpelhaftigkeit blamiert und gleichwohl doch nicht gänzlich aus der Gemeinschaft verstoßen wird. Besonders lustig erscheint der Pedant, den Richard Wagner übrigens keineswegs als Judenkarikatur anlegte, als die er oft auf die Bühne gebracht wurde, wenn er - mit Oberschenkelhose und Wams – eingekleidet wie ein Minnesänger der Renaissance (Kostüme: Sibylle Gädeke) und Mandoline sich im Glauben befindet, dem angebeteten Evchen auf ihrem Balkon in der Proszeniumsloge ein Ständchen darzubringen, während sich dort aber Magdalene über ihn amüsiert, die sich mit Blondhaarperücke als Evchen ausgibt.
Mit Vitalij Kowaljow, dem grandiosen Wotan in Thielemanns Salzburger „Walküre“, war zudem ein vorzüglicher Spitzensänger in der kleineren Partie des Veit Pogner an Bord eines wahren Luxusensembles. Camilla Nylund (Eva) und Christa Mayer (Magdalene) gaben den beiden Frauenfiguren eine starke Präsenz.
Am Ende dieser unvergesslichen grandiosen Aufführung musste ich unweigerlich an Elisabeth Schwarzkopf denken, für die übrigens das Evchen neben ihren Mozart- und Strauss-Glanzrollen zu ihren Lieblingspartien zählte. Wenn bei einer ihrer letzten Meisterklassen jemand eine große Leistung erbrachte, der die Grande Dame allergrößte Anerkennung zollte, und es im Saal danach ganz still wurde, schaute sie ins Publikum und fragte mit einem leichten Anflug von Selbstironie: „Hat noch jemand Mut?“ Wer nach diesen Thielemannschen „Meistersingern“ eine weitere Neuproduktion wagen wollte, hätte tatsächlich sehr viel Mut, lässt sich doch diese Produktion nicht überbieten.
Dazu passte es, dass sich am Ende das ganze Parkett von den Sitzen erhob und den Dirigenten und sein Ensemble feierte. Diese stehenden Ovationen mögen sich nicht nur allein auf die umwerfenden musikalischen und darstellerischen Leistungen bezogen haben, sondern kamen irgendwie auch einer Demonstration gleich: 2023, wenn Christian Thielemann und die Sächsische Staatskapelle bei den Osterfestspielen Salzburg nicht mehr willkommen sind, so verlautete zwischenzeitlich, plant Thielemann eigene Osterfestspiele in Dresden. Der kein Ende nehmen wollende Beifall schien wie eine Bekräftigung und Vorfreude darauf: Dann sind wir alle dabei!
Foto:
© Semperoper Dresden/Ludwig Olah
Info:
Weitere noch letzte Aufführungen am 10. und 16. Februar.