Serie Lieblingsoper
Kirsten Liese
Berlin (Weltexpresso) - In der Welt der Oper finden sich zahlreiche Frauenfiguren, die Stärke in ihrer Liebe, ihrem Mut und ihrer Opferbereitschaft zeigen. Aber selten trifft man auf weibliche Persönlichkeiten, die einen Mann seiner Unzulänglichkeiten derart gewitzt überführen, dass er am Ende auf Knien um Verzeihung bittet. Schon allein damit und natürlich auch mit der Kritik an der Ständepolitik empfiehlt sich Mozarts und Lorenzo da Pontes Figaro als ein zeitlos anmutendes, geniales Stück Theater, vertont mit der denkbar schönsten Musik, und das von den ersten Takten in der Ouvertüre an.
Kaum ist eine hinreißende Arie oder Ensembleszene verklungen, folgt schon die nächste, wobei für mich die beiden Arien der Gräfin „Porgi amor“ und „Dove sono i bei momenti“ zum Schönsten gehören, was überhaupt je komponiert wurde.
Elisabeth Schwarzkopf, Gundula Janowitz, Lisa della Casa und Julia Varady waren für mich unter allen Gräfinnen, die ich im Laufe von Jahrzehnten hörte, mit ihren luziden, schwerelosen Spitzentönen und genauen Ausdrucksnuancen die vortrefflichsten. Vermutlich sind das aber Details, die nur wenige Kenner wirklich goutieren können. Es sei denn, jemand hat Elisabeth Schwarzkopf auf einer ihrer letzten Meisterklassen in der Villa Schindler dabei erlebt, wie sie Takt für Takt im „Dove sono“ mit einer Elevin durchging, stets im Visier, die Kollegin für den Einsatz ihrer Kopfstimme zu sensibilisieren, von der diese anfänglich zu wenig Gebrauch machte. Aber Schwarzkopf stärkte ihr immer wieder den Rücken, sie hätte sie ja, sie müsste nur daran denken, und schaute immer wieder ins Publikum, um zu unterstreichen, „es hat ja niemand behauptet, dass diese Arie einfach wäre, gell“. Oh nein, sie ist verdammt schwer. Vor allem dann, wenn der Hauptteil bei der Wiederholung nach dem Mittelteil noch leiser gelingen soll.
Unter den zahlreichen Produktionen, die ich auf der Bühne sehen konnte, gefiel mir die Inszenierung von Götz Friedrich in den 1980er Jahren an der Deutschen Oper Berlin am besten. Dies auch deshalb, weil er sich für die Arien der Marzelline und des Don Basilio im vierten Akt stark machte, die meistens gestrichen werden.
Ich habe an die fünf oder sechs Vorstellungen dieser Produktion besucht und durfte vor der Premiere dank eines Bekannten, der damals dem Orchester als Cellist angehörte, sogar eine Probe besuchen. Daniel Barenboim dirigierte und mit Julia Varady als Gräfin, Fischer-Dieskau als Graf, Barbara Hendricks als Susanna und José von Dam als Titelhelden war eine Traumbesetzung an Bord. Das Ensemble spielte hinreißend und bestach mit Charme und Witz. Dieskau war als aufdringlicher Verführer ebenso grandios wie als der verdatterte Gefoppte, der so mancher Finte auf den Leim geht.
Leicht werden diese Ensembleszenen unterschätzt, sie sind im Zusammenspiel ungemein anspruchsvoll und erfordern ein sehr genaues Aufeinander –Hören und Reagieren wie es in vorbildlicher Weise das legendäre Wiener Mozartensemble nach Kriegsende im Theater an der Wien, dem Ausweichquartier der ausgebombten Wiener Staatsoper, vormachte. Wien in der Nachkriegszeit war freilich auch reich bestückt an so vorzüglichen Kräften wie Elisabeth Schwarzkopf, Lisa Della Casa, Sena Jurinac, Irmgard Seefried, Erich Kunz oder Paul Schöffler. Mit den bescheidensten Mitteln in kalten, unbeheizten Räumen machten sie großes Theater, dankbar dafür, spielen zu dürfen. Mit Josef Krips als Dirigenten und Oscar Fritz Schuh als Regisseur standen dem Ensemble zudem zwei Leiter vor, die dem Komponisten den gebührenden Respekt zollten.
Zu den bevorzugten Gesamtaufnahmen in meinem Regal zählt neben den Mitschnitten von Salzburger Festspielaufführungen aus den 1960er Jahren aber auch die vielfach ausgezeichnete unter Karl Böhm, in der sich rundum Sängerinnen und Sänger in ihren Paraderollen versammelten: Neben Gundula Janowitz als Contessa und Dieskau als Conte waren dies der unvergessene Hermann Prey in einer seiner besten Rollen als Figaro, Edith Mathis als Susanna und Tatjana Troyanos als Cherubino.
Ein weiteres herrliche Dokument in Bild und Ton beschert der Figaro-Film von Jean-Pierre Ponnelle, in dem neben Prey und Dieskau Kiri Te Kanawa als Gräfin und die unlängst verstorbene Mirella Freni als Susanna brillieren.
Mit seiner deutlichen Verschlankung des Orchesters Jahrzehnte später überzeugte mich durchaus auch Nikolaus Harnoncourt, der Mozart als ein Krokodil bezeichnete und in seinem Salzburger Figaro 2006 emotionalen Abgründigkeiten noch stärker nachspürte. Die Festspielproduktion war mit Anna Netrebko (Susanna), Dorothea Röschmann (Gräfin), Christine Schäfer (Cherubino), Ildebrando D’Arcangelo (Figaro) und Bo Skovhus (Graf) prominent- und summa summarum achtbar besetzt, aber die Inszenierung von Claus Guth überzeugte mich nicht. Dies vor allem deshalb, weil Humor in ihr keinen Raum fand. Man fühlte sich eher an ein bürgerliches Drama von Ibsen oder Strindberg erinnert.
Jürgen Flimm wiederum übertrieb es in seinem letzten Figaro an der Berliner Staatsoper in die andere Richtung, seine Produktion kam streckenweise mit zu vielen Slapsticks zu albern daher und blieb auch trotz großer Namen seitens der Sänger musikalisch hinter den Erwartungen zurück.
Den absoluten Figaro-Tiefpunkt markierte für mich eine Inszenierung an der Komischen Oper Berlin, in der Barrie Kosky auf die willkürliche Idee kam, die Partitur mit Klezmer-Musik anzureichern und der Sängerin der Gräfin zumutete, ihr „Porgi amor“ ohne jegliche stimmungsvolle Atmosphäre, eingequetscht in einen Kleiderschrank, anzustimmen. Pardon, aber so könnte ich nicht singen. Das konnte nicht gut gehen. Zudem wackelte es mehrfach zwischen Bühne und Graben in den Ensembleszenen, offenbar wurde zu wenig geprobt.
Die letzte achtbare Produktion, musikalisch engagiert umgesetzt mit dem „Orchestra of the Age of Enlightenment“, sah ich 2016 in Glyndebourne. Da bescherte Regisseur Michael Grandage dem Stück immerhin Rokoko-Charme und hielt gekonnt die Balance zwischen Ernst und Humor. Die Sopranistin Rosa Feola, die mir bis dato noch nicht untergekommen war, prägte sich mir mit ihrem hübschen Timbre als Susanna ein.
Wiewohl ich mich mit der Partitur des Figaro so gut vertraut fühle, dass ich mitsingen könnte, habe ich im vergangenen Sommer in Ravenna doch noch Etliches in Riccardo Mutis Opernakademie über das Stück dazu gelernt. Das ist nun zwar kaum verwunderlich, weil man bei einem so klugen, peniblen Musiker wie Muti immer etwas dazu lernt, aber in diesem Fall waren es besonders spannende Details.
So war mir nicht bekannt, dass die Nadel-Arie der Barbarina „L’ho perduta, me meschina“ am Kompositionsstil Pergolesis orientiert ist, woran sich beispielhaft zeigt, dass die da Ponte- Opern Mozarts ausgesprochen italienische Opern sind. Eine sprachliche Finesse findet sich im langen Finale des vierten Akts. Da ist von dem Grafen als dem „ucellatore“ die Rede. Landläufig übersetzt wird das Wort mit „Vogelsteller“. Natürlich ist damit der Verführer gemeint, dies aber in einer fast frivolen Doppeldeutigkeit, vereint doch das Wort „ucello“ zwei Bedeutungen: den Vogel und das männliche Geschlechtsteil.
Besonderes Augenmerk im Finale verdient zudem der melancholisch eingetrübte Moment von nur vier Takten im Pianissimo vor dem Rausschmeißer, in dem Mozart die scheinbar wiederhergestellte Harmonie Lügen straft. In der Bedeutsamkeit waren sie mir, so oft ich sie gehört hatte, noch gar nicht bewusst.
Im Übrigen staunte ich in Ravenna über die trefflichen jungen Sängerinnen und Sänger, die Muti da um sich versammelte: Vittoria Magnarello (Susanna), Serena Gamberoni (Gräfin), Alessio Arduini (Figaro) und Luca Micheletti (Graf) waren allesamt eine Wucht und um etliches besser als die namhaften Kollegen, die ich zuletzt an renommierten großen Häusern hörte. Elisabeth Schwarzkopf hätte an ihnen ihre Freude gehabt. Ich kann sie nur wärmstens empfehlen. Ihren Weg machen werden sie ganz sicher.
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Künstlerpostkarte: Julia Varady als Gräfin mit Widmung