Yves Kugelmann
Basel (Weltexpresso) - Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron würdigte die Verdienste des israelischen Geigers und nannte ihn einen der grössten Violinisten seiner Zeit.
Keiner hat das Violinkonzert von Jean Sibelius so gespielt wie der Jahrhundertgeiger Ivry Gitlis. Keiner. Ebenso wenig wie das Violinkonzert von Tschaikowsky. Mit Eigenheit, Inbrunst und tiefer Seelenverhaftung, die die Zuhörer nicht mehr loslassen.
Beim letzten Besuch in seiner Pariser Wohnung in St. Germain rezitierte er Zeilen aus seinen Notizen. Er war kein einfacher Gesprächspartner: wach, vif, gedanken- und unwahrscheinlich sprachgewaltig in über zehn Sprachen. Er agierte, reagierte, machte Gespräche zu einer Art Schachspiel, das keinen Gewinner, sondern das sinnvolle Argument, eine Art säkulare Wahrheit suchte und sein Gegenüber weiterbrachte. Sei es in Meisterkursen, beim Proben oder schlicht im zufälligen Gespräch im Pariser Café Flore oder irgendwo auf der Welt. Gitlis war ein Menschenvereinnahmer. Wer ihm oft zufällig begegnete, den ließ er nicht mehr los – beidseitig. Gitlis suchte die Jungen, fand sie weltweit und begeisterte sie mit seiner völlig freien, nonkonformen Art. Wer mit Gitlis sprach, fand sich in einem offenen Raum der Freiheit ohne Konventionen und Regeln.
Gitlis wurde 1922 in Haifa geboren, sein Weg führte ihn früh nach Europa zum Studium. Mit seiner Mutter flüchtete er, das Einzelkind, während des Zweiten Weltkriegs nach London, wo er in einem Rüstungsbetrieb arbeitete. Seine Lehrer waren drei hochberühmte Geiger – Carl Flesch, George Enescu und Jacques Thibaud. Gitlis selbst galt als Wunderkind. Aufgetreten und befreundet war er mit den großen Weggefährten Martha Argerich, Jascha Heifetz, Isaac Stern, Yehudi Menuhin, Itzchak Perlman und vielen anderen; eine Art kaleidoskopischer Chronist des 20. Musikjahrhunderts und darüber hinaus.
Bei den Gesprächen in seiner Pariser Wohnung stand stets die Stradivari im Raum, Baujahr 1713. Eben hatte er wieder einen Text geschrieben, der Shakespeare zum Ausgangspunkt und einen Blick auf die immer noch durchgerüttelte Gegenwart nahm, einen Text voller Wortspiele und prägnanter Andeutungen zwischen Hoffnung und Ohnmacht angesichts von Kriegen und Verirrungen. «The world is still shaking its pear.» So war er, so waren die Gespräche; beim Reden komponierte er Sprache mit viel Wortwitz und Scharfsinn. Es folgten Gespräche über Musik, Geschichte und die Juden in ihr. Ivry Gitlis wollte stets über die Musik Kulturen und Menschen verbinden, Humanismus durch Kunst. Bis er auf die Essenz des letzten Jahrhunderts zurückkam: «Eines werde ich nie verstehen: Es war nicht der Krieg als solcher. Den gibt es. Es war die industrielle Eliminierung von Menschen, von Juden.»
Und sprach weiter: «Du kannst jemanden töten im Affekt, aus Wut, aus Rache. Wir kennen die Geschichten. Doch der bis ins letzte Detail geplante Massenmord hat auch jene dehumanisiert, die nie daran beteiligt waren. So brachial und unbegreiflich ist er.» Gitlis las weiter aus den Texten, die er tags zuvor geschrieben hatte. Darin ging er der Frage nach, wieso Jüdinnen und Juden über Jahrtausende existieren können. Die Sprache bleibt die zentrale Antwort, die eigene Sprache, in der Juden wirkten, lebten, dachten und vor allem schrieben – das passende Thema vor Pessach und der Frage, was diese jüdische Kultur ausmacht und wie sie sich fortentwickelt. Das Gespräch über eine Kultur des Textes und jene von Heinrich Heines portativem Vaterland. «Heine hat mir diesen Satz geklaut», sagte Gitlis schmunzelnd. Denn für ihn lag darin die Essenz der jüdischen Geschichte und des jüdischen Überlebens. «Würde Heine noch leben, ich hätte ihn eingeklagt.»
Gitlis war aus Überzeugung in Europa, lebte seit 1960 in Paris und betrachtete die Realität mit jener Prise schwankender Hoffnung, die so viele der Generation haben, die im Angesicht des Schreckens überlebt und den Wandel nach dem Krieg erlebt hatten. Pessach sah er geradezu als Prinzip der Befreiung zur Freiheit und der jüdischen Geschichte. Und so passte auch, dass in jenen Tagen der neu erschienene Essay von Hannah Arendt «Die Freiheit, frei zu sein» aus ihrem Nachlass die Feuilletons und Bestsellerlisten anführte. In ihrer spannenden Analyse über Revolution, Freiheit und Tyrannei nimmt Arendt in einem 2017 aufgetauchten und damals publizierten Essay aus dem Jahre 1966 viele Entwicklungen der Zukunft vorweg und sinniert über Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft. Gitlis war diese Ambivalenz und Fragilität nur zu gut bewusst. Die Freiheit der politischen Denkerin spiegelte Gitlis im Zugang zu Kunst, Musse und Liebe. Und las weiter vom Zwiegespräch zwischen Zukunft und Vergangenheit als Metapher für zwei Liebende: «Ein Tag vergeht und ein anderer bereitet sich vor, um zu kommen. Und Du! Wo bist Du? ..."
Wo Gitlis war, beantworten frühe Aufnahmen. Paganini hatte er mit dem ihm eigenen Schalk getrotzt und die technischen Herausforderungen mit einer Leichtigkeit pariert, die schlicht fasziniert. Gerne sprach er davon, dass ein gespielter Satz von Rubinstein, Horowitz, Menuhin, Oistrakh, Argerich auf alten Aufnahmen blind erkannt werden könne, während die Moderne nur noch technisch brillante, perfekte Aufnahmen ohne Seele und Identität abliefere. Wer ein Werk zweimal gleich spiele, habe die komplexe, vielfach interpretierbare Seele einer Komposition nicht erfasst, pflegte er zu sagen. Diese Offenheit war auch eine, die ihn Grenzen in der Musik und Kunst überschreiten liess. Er scheute den Schritt zum Rock und Pop ebenso wenig wie in andere Bereiche. Mit seinem Freund, dem Pantomimen Marcel Marceau, trat er auf, ebenso wie mit John Lennon, Eric Clapton oder Jazzmusikern. In den 1970er Jahren begründete er im südfranzösischen Vence ein experimentelles Musikfestival. Er reiste mit Violine durch die Kontinente und suchte das wahrhaftig authentische in den Kulturen von Afrika und Indien bis Asien. Und dort fand er, was in seiner Wahlheimat Europa immer seltener wurde: «Ich liebe Menschen, die hungrig sind, die nicht fertig sind – oder denken, sie seien fertig. Menschen auf dem Weg.» Die Erneuerung, die Veränderung, der permanente Wandel – das war Gitlis. Immer wieder wies er darauf hin, dass sein Familienname vom hebräischen Wortstamm «passieren», also weitergehen, herrühre.
Ein Jahrhundertgeiger, der sich selbst immer wieder dekonstruierte und durch Musik oder Begegnungen vor allem den Dialog mit Menschen suchte. Gespräche, die nach Veranstaltungen oder Pariser Soirées regelmässig in seiner Wohnung bis tief in die Nacht fortgeführt wurden. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Kunst, der Musik trieb ihn ebenso um wie jene seiner Gesprächspartner. Und doch: wer Gitlis erkennen wollte, musste seine Interpretationen von Bartok, Bloch, Beethoven studieren. Sie vollendeten, was aus Worten trotz deren Klarheit nicht zu erfassen war: die Symbiose von Gefühl und Geist. So wie er über sein erstes Violinkonzert von Sibelius sagte: «Es kam von irgendwoher. Ich spielte es nur.» Sibelius liess ihn nicht mehr los – und umgekehrt. Die mythische Ouvertüre, die Tiefe in aller Offenheit. Bis zuletzt ruhte Gitlis nicht, er war präsent in Paris. Noch bis vor Kurzem gab er Konzertabende, dirigierte oder unterrichtete junge Musikerinnen und Musiker. Er blieb ein Getriebener, ein Aufklärer und Botschafter der Musik, auch als UNESCO-Botschafter und Völkerverständiger. Am Donnerstag ist er in Paris im Alter von 98 Jahren gestorben. Und mit ihm der letzte Zeuge und Vertreter einer Jahrhundertepoche klassischer Musikinterpreten.
Foto:
© tacles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 28. Dezember 2020
Gitlis war aus Überzeugung in Europa, lebte seit 1960 in Paris und betrachtete die Realität mit jener Prise schwankender Hoffnung, die so viele der Generation haben, die im Angesicht des Schreckens überlebt und den Wandel nach dem Krieg erlebt hatten. Pessach sah er geradezu als Prinzip der Befreiung zur Freiheit und der jüdischen Geschichte. Und so passte auch, dass in jenen Tagen der neu erschienene Essay von Hannah Arendt «Die Freiheit, frei zu sein» aus ihrem Nachlass die Feuilletons und Bestsellerlisten anführte. In ihrer spannenden Analyse über Revolution, Freiheit und Tyrannei nimmt Arendt in einem 2017 aufgetauchten und damals publizierten Essay aus dem Jahre 1966 viele Entwicklungen der Zukunft vorweg und sinniert über Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft. Gitlis war diese Ambivalenz und Fragilität nur zu gut bewusst. Die Freiheit der politischen Denkerin spiegelte Gitlis im Zugang zu Kunst, Musse und Liebe. Und las weiter vom Zwiegespräch zwischen Zukunft und Vergangenheit als Metapher für zwei Liebende: «Ein Tag vergeht und ein anderer bereitet sich vor, um zu kommen. Und Du! Wo bist Du? ..."
Wo Gitlis war, beantworten frühe Aufnahmen. Paganini hatte er mit dem ihm eigenen Schalk getrotzt und die technischen Herausforderungen mit einer Leichtigkeit pariert, die schlicht fasziniert. Gerne sprach er davon, dass ein gespielter Satz von Rubinstein, Horowitz, Menuhin, Oistrakh, Argerich auf alten Aufnahmen blind erkannt werden könne, während die Moderne nur noch technisch brillante, perfekte Aufnahmen ohne Seele und Identität abliefere. Wer ein Werk zweimal gleich spiele, habe die komplexe, vielfach interpretierbare Seele einer Komposition nicht erfasst, pflegte er zu sagen. Diese Offenheit war auch eine, die ihn Grenzen in der Musik und Kunst überschreiten liess. Er scheute den Schritt zum Rock und Pop ebenso wenig wie in andere Bereiche. Mit seinem Freund, dem Pantomimen Marcel Marceau, trat er auf, ebenso wie mit John Lennon, Eric Clapton oder Jazzmusikern. In den 1970er Jahren begründete er im südfranzösischen Vence ein experimentelles Musikfestival. Er reiste mit Violine durch die Kontinente und suchte das wahrhaftig authentische in den Kulturen von Afrika und Indien bis Asien. Und dort fand er, was in seiner Wahlheimat Europa immer seltener wurde: «Ich liebe Menschen, die hungrig sind, die nicht fertig sind – oder denken, sie seien fertig. Menschen auf dem Weg.» Die Erneuerung, die Veränderung, der permanente Wandel – das war Gitlis. Immer wieder wies er darauf hin, dass sein Familienname vom hebräischen Wortstamm «passieren», also weitergehen, herrühre.
Ein Jahrhundertgeiger, der sich selbst immer wieder dekonstruierte und durch Musik oder Begegnungen vor allem den Dialog mit Menschen suchte. Gespräche, die nach Veranstaltungen oder Pariser Soirées regelmässig in seiner Wohnung bis tief in die Nacht fortgeführt wurden. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Kunst, der Musik trieb ihn ebenso um wie jene seiner Gesprächspartner. Und doch: wer Gitlis erkennen wollte, musste seine Interpretationen von Bartok, Bloch, Beethoven studieren. Sie vollendeten, was aus Worten trotz deren Klarheit nicht zu erfassen war: die Symbiose von Gefühl und Geist. So wie er über sein erstes Violinkonzert von Sibelius sagte: «Es kam von irgendwoher. Ich spielte es nur.» Sibelius liess ihn nicht mehr los – und umgekehrt. Die mythische Ouvertüre, die Tiefe in aller Offenheit. Bis zuletzt ruhte Gitlis nicht, er war präsent in Paris. Noch bis vor Kurzem gab er Konzertabende, dirigierte oder unterrichtete junge Musikerinnen und Musiker. Er blieb ein Getriebener, ein Aufklärer und Botschafter der Musik, auch als UNESCO-Botschafter und Völkerverständiger. Am Donnerstag ist er in Paris im Alter von 98 Jahren gestorben. Und mit ihm der letzte Zeuge und Vertreter einer Jahrhundertepoche klassischer Musikinterpreten.
Foto:
© tacles
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 28. Dezember 2020