musikundwasEin politischer Konzertbericht aus Tirol

Wolfgang G. Weber, Maike Weber

Innsbruck (Weltexpresso) - Als wir als Abonnenten der Symphoniekonzerte des Tiroler Symphonieorchesters, nach Teilnahme am Weltklimastreik und Protest gegen den Angriffskrieg der russischen Regierung gegen die Ukraine, am Abend des 25. März im Congress Innsbruck erschienen, erwartete uns eine Überraschung.

Angekündigt war seit Langem, neben der Partita Nr. 2 „Macktoub“ für Akkordeon und Orchester von Artem Nyzhnyk und der Symphonie Nr. 5 Es-Dur, op.82 von Jean Sibelius, als erstes Stück des Abends die Ouvertüre-Fantasie „Hamlet“ op.62 von Pjotr Iljitsch Tschaikowski. Laut Programmheft des Abends war das Tschaikowski-Stück kurzfristig abgesetzt und durch ein weiteres Stück von Jean Sibelius ersetzt worden: „Finlandia“, eine Tondichtung für Orchester Opus 26.

Somit schien es, als sei ein liberaler, u.a. wegen seiner Homosexualität verfolgter russischer Komponist und Freigeist, durch einen nationalistischen, wegen seiner opportunistischen Haltung gegenüber den Nazifaschisten sehr umstrittenen finnischen Komponisten ersetzt worden. Ein Doppel(-bödiger)-Sibelius? Eine denkbar schlechte Wahl für ein Konzert, das in Zeiten des Krieges auch die Solidarität mit der durch eine nationalistisch-imperialistische Großmacht überfallenen ukrainischen Bevölkerung zum Ausdruck bringen sollte. So hat Jean Sibelius 1932 für die finnische faschistische LAPUA-Bewegung, die er und seine Frau Aino in den 1930-er Jahren unterstützten, einen Marsch komponiert. Weiterhin war Sibelius einer der gefeiertsten ausländischen Komponisten während des gesamten „III. Reichs“, deren Herrenmenschen 1942 sogar eine von Propagandaminister Goebbels initiierte Deutsche Sibelius-Gesellschaft gründeten, wofür sich der Altmeister in einer Radioansprache höflich bedankte: „Die große Sympathie für mein Vaterland in diesen Zeiten der Schicksalsgemeinschaft und das Interesse für meine Musik, die auch durch die Gründung der deutschen Sibeliusgesellschaft zum Ausdruck gekommen [ist], machen mich stolz und glücklich. Aus den finnischen Wäldern sende ich meinen Gruß an Deutschland, das strahlende Land der Musik.“

Der da grüßte, so wie einst der „Übermensch“ Zarathustra vom Berge herab, bezieht sich mit der „Schicksalsgemeinschaft“ auf ein zentrales Konzept des infolge der Nürnberger Prozesse hingerichteten Nazi-Philosophen Alfred Rosenberg. Vom Nazi-Regime wurde Sibelius bereits 1935 ausgerechnet die Goethe Medaille mit einer von Adolf Hitler persönlich unterzeichneten Urkunde verliehen.

Bei genauerer Durchsicht des Programmheftes empfanden wir nochmalig Unerhörtes: Sicherlich unbeabsichtigt von den Programmgestaltern und doch zur momentan erlebten Tragikomik passend sprang uns „FINNLAND ERWACHT“ ins Auge. So war die Beschreibung der Tondichtung „Finlandia“ überschrieben. Ungewollt wurden Assoziationen an den Nazi-Schlachtruf „Deutschland erwache“ geweckt [2]. Respektvoll nannten die damaligen Apologeten der arischen Musik Sibelius passenderweise den “finnischen Wagner“.

Verschlimmernd gesellte sich unserem Schreck nun noch unsere Erfahrung mit Rorschachtests hinzu: Es galt, dem Eindruck entgegen zu wirken, das wohnzimmergroße Gemälde, das wohl als Späthommage dem abstrakten Expressionismus zugeeignet war und über den Köpfen des Orchesters im Konzertsaal thronte, stelle ein in Schlagseite geratenes Kriegsschiff während einer feurigen Seeschlacht dar, könne dem Tiefgang nur schwer standhalten und drohe, aus dem Rahmen zu fallen.

Etwas vom Geiste Hamlets, des ewigen Zauderers, schien die ausgewogene Programmgestaltung dieses Abends kurzzeitig aus der Balance gebracht zu haben. Indes – es kam ganz anders, das Verdrängte kehrte wieder. Als erstes Stück wurde das kammermusikalische Stück „Abschied“ (aus den Chorälen für Streichorchester) von Werner Pirchner aufgeführt. Eine bessere Wahl hätten die Verantwortlichen des Tiroler Symphonieorchesters nicht treffen können. Einerseits wurde dort den Flüchtlingen aus früherer Not und Verfolgung und nun, im neuen Kontext, auch der Flüchtlinge auch den durch den brutalen russischen Angriff auf die Ukraine bedrohten Menschen gedacht. Andererseits wurde damit der Tiroler Komponist Werner Pirchner geehrt, dessen Lieder aus „Ein halbes Doppelalbum“ in den 1970-er Jahren noch Radioverbot erhielten [3], weil sie den Hörenden nicht nur die Verfolgten und Unterdrückten in Erinnerung riefen, sondern auch die Verfolger und Unterdrücker mit Satire überzogen. Einige von Pirchners späteren Kompositionen erlangten verdienterweise internationales Ansehen.

Auch die Aufführung von „Maktoub“ des ukrainischen Komponisten Artem Nyznhyk erwies sich thematisch ganz im Sinne der Solidarität und wurde von Ksenia Sidorova am Akkordeon virtuos umgesetzt.

Als Ursache der kurzfristigen Programmänderungen stellte sich gemäß Auskunft des Leiters des Orchestersbüros der Ausfall des ursprünglich vorgesehenen Dirigenten Ainars Rubikis heraus. Der stattdessen kurzfristig verpflichtete Dirigent Patrick Lange meisterte nach unserer Einschätzung als Musikliebhaber seine Aufgabe hervorragend. Das nochmalige Umschwenken des Programms von Sibelius auf Pirchner blieb indes  unkommentiert. Dem dürfte jedoch ein Diskurs unter den Programmbeteiligten über eine angemessene Komponistenwahl in Zeiten des Krieges und der nationalistischen Menschenverachtung vorangegangen sein.

Nach Ausklingen des beweltgeisterten Beifalls (und der, in Konzerten wohl unvermeidlichen, Hüstel- und Räuspercoda) des Publikums warfen wir einen letzten Blick auf das gefährdete Riesengemälde und erblickten, wohl verzaubert vom Erhörten, ein Passagierschiff, das friedlich in der Abendsonne in die Zukunft einer besseren, lebensdienlichen Welt aufbrach, uns auch am heutigen Abend tröstende Flaschenpost von Artem Nyzhnyk und Werner Pirchner hinterlassend.

Das Tiroler Symphonieorchester wird weiterhin Stücke von russischen Komponisten aufführen, darunter im Herbstprogramm die 5. Symphonie von Tschaikowski sowie die Oper Boris Godunow von Mussorgsky.

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Info:
Weiterführende Links:

[1] Vihinen, Antti: Sibelius, the Nazis and the Political Culture of Finland.
<  HYPERLINK "https://sibeliusone.com/wp-content/uploads/2018/11/Vihinen_Sibelius-the-Nazis-and-the-Political-Culture.pdf" https://sibeliusone.com/wp-content/uploads/2018/11/Vihinen_Sibelius-the-Nazis-and-the-Political-Culture.pdf>

[2] "Erwin Leiser (1968): "Deutschland erwache!" - Propaganda im Film des Dritten Reiches". Reinbek, Rowohlt Taschenbuch

[3]. Pirchner, Werner (1973/2003): Ein halbes Doppelalbum: was wir über das Leben nach dem Tode wissen & fast 22 andere Lieder nebst der Seite 3. Edition Werner Pirchner EU/AKM, Austro Mechana.


Autoreninfo:
Wolfgang G. Weber ist als Psychologe in Forschung und Lehre in Innsbruck tätig, zuweilen auch als politischer Kommentator
Maike Weber ist Ärztin und ein politisch und kulturell interessierter Mensch