Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Das Antikriegslied „Sag mir, wo die Blumen sind“ begleitet mich, seit Marlene Dietrich die deutsche Version 1962 bei uns populär gemacht hat. Auch nach einem halben Jahrhundert gehen mir Text und Melodie immer noch unter die Haut.
So war es auch vor ein paar Tagen, als ich im Internet bei der Suche nach einem Redetext auf das von Pete Seeger komponierte Lied stieß und mir wieder die Tränen kamen. Entstanden ist das Lied nach seinen Worten im Oktober 1955. Die Grundidee des Textes habe er einem Donkosaken-Lied entlehnt, von dem er drei Verse als Zitat in dem Roman Der stille Don des russischen Schriftstellers Michail Scholochow entdeckt hatte. Die Melodie geht auf einen amerikanischen Folksong mit dem Titel "Where Have All The Flowers Gone“ zurück.
Marlene Dietrich verleiht jedem Wort des deutschen Textes durch die unvergleichliche schlichte Art ihres Vortrags eine besondere Bedeutung. Bei mir ruft das Lied die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wach, dessen grauenvolle Erlebnisse ich mit siebzehn Jahren als Soldat am eigenen Leib erfahren habe. Sie bewirkten eine tiefe Sehnsucht nach Frieden.
Das muss wohl auch der Grund gewesen sein, dass ich 2003 nach einer schweren Operation während der Übertragung einer Kundgebung gegen den Krieg im Irak bei einem Friedenslied von Konstantin Wecker hemmungslos zu weinen begann. Damals hatten sich in Berlin 500 000 Menschen aus Protest gegen das Verhalten der USA versammelt.
Woran es in Einzelnen lag, dass ich Ende der 1950er Jahre Beethovens Neunte Symphonie als tiefe Erschütterung erlebte, weiß ich nicht mehr. Die Familie war damals gerade aus dem Ruhrgebiet in die quirlige Großstadt Frankfurt übersiedelt. Wir hatten uns einen neuen Plattenspieler gekauft und eines Abends die Neunte aufgelegt, die mich vom ersten Takt an in ihren Bann zog. Als das Motiv der Ode an die Freude erstmals aufschimmerte war mir, als verlöre ich mehr und mehr den inneren Halt, bis mich ein Weinkrampf bis auf den Grund meiner Seele erschütterte und aufwühlte.
Seither habe ich einiges gelesen über die geheimnisvolle Macht der Musik, aber nichts von alledem hat so tiefe Spuren hinterlassen wie ein kleines Lied, das meine Mutter oft gesungen hat. Unberührt von den Leidenschaften des Erwachsenenlebens nahm ich jeden Ton und jedes Wort in mir auf. Meine Mutter hatte eine sehr schöne Stimme und sie begleitete sich auf der Gitarre „Stehn zwei Stern am hohen Himmel, leuchten heller als der Mond, leuchten so hell, leuchten so hell, leuchten heller als Mond“, heißt es zu Beginn.
So geht es über viele Strophen weiter. Ich habe das Lied nie bis zum Ende gehört. Weil mir die Tränen kamen und ich mich schämte, schlich ich mich immer davon. Jetzt bin ich 95 Jahre alt und habe die Melodie immer noch im Kopf. Und die Tränen fließen wie immer, so wie sie fließen, wenn Marlene Dietrich, die im Zweiten Weltkrieg amerikanische Uniform trug, auf der Bühne steht und auf unvergleichliche Art und Weise „Sag mir, wo die Blumen sind“ singt.
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