Ein Mann und sein Instrument: Wie Hagen Pätzold auf das antike Cornu kam

 

Eric Fischling und Anja Prechel

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Weil er keine Antworten auf seine Fragen fand, begann er selbst zu forschen. Heute ist Hagen Pätzold, von Haus aus Trompeter, ein gefragter Mann, wenn es um Musik und Instrumente der Antike geht. Sein Nachbau des Cornu von Pompeji ist das einzig legitimierte weltweit.

 

Wobei wir sofort nachfragen: Hagen? Wer sein Kind, seinen Sohn Hagen nennt, der muß entweder die deutsche Geschichte lieben und/oder mit der Musik, erst recht mit solcher Wagnermusik, die deutsche Geschichte in schmelzende Töne gebracht hat, doch zu tun haben. Wobei der Name Hagen so Herausforderung ist wie Nachdenklichkeit erzeugt. Wenn man aber Hagen heißt, ist das längst selbstverständlich geworden. Wie auch die Leidenschaft für die ganz alte Musik.

 

Wenn Hagen Pätzold sein Cornu durch Frankfurt trägt, erntet er immer wieder fragende Blicke. Passanten machen lange Hälse, manche sprechen ihn an. „Was ist denn das?“, wollen sie wissen und deuten auf das Teil in Pätzolds Hand. Bronzenes Rohr, nicht ganz zum Kreis gebogen, 1,20 Meter hoch, in der Mitte eine Querverstrebung, an einem Ende ein Mundstück, am anderen ein Trichter. Was man im Vorbeigehen für Arbeitsmaterial eines Gas-Wasser-Installateurs halten könnte, ist ein Instrument. Das größte und älteste virtuose Blechblasinstrument der Welt, kurz: Cornu.

 

Freilich transportiert Pätzold kein Original durch Frankfurts Straßen. Es ist ein Nachbau. „Der einzig legitimierte originalgetreue des Cornu aus der Arena von Pompeji“, sagt Pätzold. Und wenn er das sagt, schwingt ein bisschen Stolz in seiner Stimme. Pätzold, 42 Jahre alt, geboren in Büdingen, wohnhaft im Ostend, hat es selbst gebaut. Er hat die Geschichte des Instruments erforscht. Und spielen kann er es auch.

 

 

Ohren gespitzt

 

Ich war drei Jahre alt, als ich das erste Mal trompetet habe“, erzählt er. Mit seinen Eltern besuchte er einen Trödler, entdeckte ein altes Jagdhorn, setzte es ungefragt an und entlockte dem Instrument prompt Töne. Der Händler spitzte die Ohren und empfahl den verdutzten Eltern: „Kaufen Sie dem Jungen doch das Horn.“ Sie kauften, der kleine Hagen spielte und kam nach Jahren der familiären Hausmusik zur städtischen Blaskapelle Büdingen und später ans Hoch'sche Konservatorium in Frankfurt. Hagen Pätzold war ganz versessen auf die Musik. Am Konservatorium stellte sich heraus: Der Junge hat das Zeug zum Berufsmusiker. Pätzold studierte, erst Musikpädagogik, danach klassische Trompete an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Frankfurt sowie Naturtrompete an der Musikhochschule in Köln – letzteres ein Studium, das im Fach Geschichte mehr Fragen aufwarf, als es beantwortete.

 

 

Fragen gestellt

 

In den Vorlesungen lernte Pätzold, welche Blechblasinstrumente es bereits in der Antike gab und wie sich deren Nachfolger in den vergangenen 2000 Jahren entwickelt haben – von der fanfarenartigen Naturtrompete, die um 1100 nach Europa kam, über die erste Konzerttrompete, die mit der Entwicklung der Bleigusstechnik in der Renaissance entstand, bis zur Trompete mit Ventilen wie wir sie heute kennen. Der junge Musikstudent erfuhr, welche Töne und Melodien auf den jeweiligen Instrumenten zu spielen möglich waren. Allerdings reichte das Wissen „nur bis zum Jahr 1100 zurück“, erinnert sich Pätzold. Was aber war davor? Welche Stücke spielte man in den Arenen des alten Rom? Die Professoren konnten Pätzold keine Antwort geben. So begann er selbst nach ihr zu suchen.

 

Eine aufwendige Sache“, sagt er. Antike Abbildungen der Instrumente der Römer gibt es genug. Das Mosaik von Nennig im Saarland ist nur ein Beispiel. Es ist das größte nördlich der Alpen und zeigt unter anderem eine antike Wasserorgel und ein Cornu. Auf zahlreichen anderen Reliefs sieht man Menschen mit sogenannten Fanfaren in der Hand. „Wissen über römische Musik war jedoch nicht vorhanden“, sagt Pätzold.

 

 

Antworten gefunden

 

Seine erste Forschung führte ihn auf die Saalburg. Doch auch im Römerkastell im Taunus wurde er kaum fündig. Also beschäftigte er sich mit Abbildungen und Fotografien, fand heraus, dass in Neapel Originalfunde aus Pompeji ausgestellt sind, wandte sich an Wissenschaftler, die in dieser Historienepoche forschten. Bei einer Veranstaltung zur römischen Darstellung lernte Pätzold den Historiker Marcus Junkelmann kennen, er gilt als einer der führenden Experimentalarchäologen. 1985 überquerten Junkelmann und seine Begleiter mit rekonstruierten Ausrüstungsgegenständen von römischen Legionären die Alpen, so wie die Römer es vor 2 000 Jahren getan hatten.

 

Für Hagen Pätzold wurde die Begegnung mit dem Experten zum Turboantrieb seiner eigenen Experimentalarchäologen-Karriere. Allein die Nennung des Namens Junkelmann öffnete Pätzold wichtige Türen. Stück für Stück konnte er so seine Informationen zusammentragen. Zeichnungen, Baupläne – irgendwann hatte er so viele Details gesammelt, dass er eine Rekonstruktion wagte. Erst zwei kleinere Instrumente, dann das Cornu.

 

 

Instrument gebaut

 

Die beiden Vorgänger ebneten den Weg, das Cornu penibel nachbauen zu können“, sagt Pätzold. Gemeinsam mit einem befreundeten Physiker tüftelte er an der Replik. Die Wandstärke des Bronzerohrs, des Schallbechers und dessen sogenannter hyperbolischer Steigung, die exakten Ablängung des zylindrischen Verlaufs, das abnehmbaren Mundstück – alles musste stimmen.

 

Cornus wie das von Pompej, erklärt der Musikarchäologe, seien mit ihren großen Rohrlängen die ersten Blechblasinstrumente gewesen, in denen sich eine entsprechende Luftsäule ergab, über die die Musiker der Antike durch Luftintensität, Lippen- und Zungenbewegung die Tonlage manipulieren konnten und damit virtuose Stücke spielen konnten. „Das erste Spiel auf meinem Cornu war wie wenn man eine Mumie zum Leben erweckt“, erinnert sich Pätzold. Plötzlich erklangen nach fast 2000 Jahren Töne, die man das letzte Mal in einer antiken Arena gehört hatte. „Ein bewegendes, faszinierendes Erlebnis.“

 

 

These widerlegt

 

Spielte Pätzold anfangs nur freie Improvisationen, wurde er während weiterer Nachforschungen auf die Übersetzung antiker Notationen des Philologen Egert Pöhlmann aufmerksam. „Antike Noten findet man auf Stein, Stelen, Säulen, Papyrus – doch sie haben nichts mit den Noten unserer Zeit gemein. Man muss die altgriechische Schrift beherrschen, um sie lesen zu können“, erklärt Pätzold. Pöhlmann beherrscht sie, hat zahlreiche Stücke in die heutige Notation übersetzt und im Jahr 1970 in einer Publikation für Universitäten veröffentlicht. 1.000 Exemplare umfasste die Auflage. Pätzold fand seines für 200 Dollar in einem New Yorker Musikantiquariat. Er spielte sich durch die Stücke, um herauszufinden, welche für das Cornu passen. Dabei widerlegte Pätzold Pöhlmanns Vorwort, in dem dieser schreibt, die antiken Noten oblägen lediglich dem theoretischen Wissen. Für die praktische Darstellung seien sie nicht geeignet.

 

 

Konzerte gegeben

 

Nach 15 Jahren Recherche und praktischer Anwendung seines Cornu nennt sich Pätzold nicht mehr nur Diplom-Musiker, sondern auch Musikarchäologe. Unter Kollegen gilt er als gefragter Experte. Pätzold tritt in Europas Museen auf - in der Arena von Nîmes, beim Römerfest des Archäologischen Parks in Xanten oder seines österreichischen Pendants Carnuntum bei Wien. Auch im Archäologischen Museum Frankfurt konnte man ihn während der Ausstellung „Gladiatoren. Tod und Triumph im Colosseum“ sehen und hören, weitere Gastspiele sind geplant.

 

Die Zuhörer empfinden die Musik der Antike als wohlwollend, beruhigend, melancholisch und auch als lebensfroh und manchmal sogar als lustig“, sagt Hagen Pätzold. In den Arenen der Antike sei das Cornu zur musikalischen Umrahmung der Gladiatorenkämpfe und zur Unterhaltung des Publikums gespielt worden. Für das heutige Publikum zu spielen, mal nicht im historischen Kontext, sondern in einem klassischen Musikbetrieb, den Hauch der Geschichte durch, sagen wir, die Frankfurter Alte Oper und ähnliche Konzerthäuser wehen zu lassen – für Pätzold wäre das die Krönung seiner Forschung.

 

Fotos: Salome Roessler/PIA