Serie: FRANKFURT LIEST EIN BUCH: Mirjam Pressler, „Grüße und Küsse an alle“ vom 13. bis 26. April, Teil 17

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Man konnte es ahnen und erhoffte es, daß es wieder wie bei den letzten Malen des Lesefestes im Holzfoyer der Oper zu besonders ergreifenden Momenten kommt, wenn zu gelesenen Stellen aus dem Buch die jungen Sänger aus dem Opernstudio passende Lieder singen. Und bewegend war es auch, als die Musik auf die Worte traf, diesmal in doppeltem Leid.

 

Die Schauspielerin und Autorin Corinna Schnabel las die vom spiritus rector des Lesefestes, Lothar Ruske, ausgesuchten Stellen, der Pianist Eytan Pessen begleitete die fünf der sieben Mitglieder des Opernstudios, die Lieder vortrugen, die von Mordechaj Gebirtig stammen sowie von Komponisten, die von den Nazis in Konzentrationslagern umgebracht wurden. Kompositionen von Pavel Haas, Mordechaj Gebirtig, Ilse Weber u.a.. Das liest sich so dahin. Aber was bedeutet es? Daß Menschen unter Todesangst dichteten und komponierten, um sich selbst lebendig zu halten, der Angst Herr zu werden und den anderen Mut zu machen. Auch typisch, daß in der lange nur sehr zögerlichen Aufarbeitung ihrer Mördergeschichte die Deutschen nicht alle diese Gedichte und Lieder, alle Kompositionen gesammelt und als besonders Vermächtnis herausgeben und zig Mal aufgeführt haben. Um so erfreulicher, daß in diesem Kontext des Lesefestes diese Aufführung nun möglich war.

 

Was man, wenn man das Buch gut kennt, erst am Ende des Abends wirklich versteht, das ist, daß Lothar Ruske die sensibelsten Stellen für diese Lesung ausgewählt hatte, wobei sensibel nur ein Umschreibung ist für das Grauen, das einen immer von neuem erfaßt, wenn es um das Leben, besser um das Sterben in den KZs geht, das in diesem Buch, das hauptsächlich von drei Menschen, Alice, Leni und Buddy handelt, die alle in der Schweiz überleben, die eigentliche Grundmelodie ist: das Sterben der Edith, Margot und Anne Frank als Verkörperungen all der anderen in Deutschland Ermordeten. Das Kapitel ist

mit „Ungewißheit“ überschrieben und handelt davon, wie die Familie in Basel auf Lebenszeichen von Otto und seiner Familie wartet – und dann, als er aus dem Osten schreibt, fälschlich die ganze Familie am Leben wähnt. Gerade dazu kommen einem die Lieder wie ein Kontrapunkt vor, die das Grauen bestätigend gleichwohl tröstlich sind.

 

 

'Könnt Ihr nicht in Amsterdam anrufen?', fragt Alice jeden Tag, als sie noch nicht weiß, daß die ganze Familie mit Otto in die KZs im Osten und Norden verschleppt wurde. Und dann wendet Mirjam Pressler wieder ein Verfahren, einen Schreibtrick an, der es möglich macht, daß im Buch ein Unwissender, der ja eigentlich wir sind, die Wahrheit erfährt. „Buddy wollte alles wissen, was da los war, die Geschichte kannte er noch nicht, und Alice erzählte sie ihm. „Otto kam erst viele Wochen nach dem Krieg nach Hause..“ und Buddy wird auch im Folgenden immer wieder der sein, dem man etwas erzählt, was wir hören sollen. Längst weiß man auch in Basel um die KZs, die Millionen, zwei, drei Millionen Ermordeter oder mehr? Bergen-Belsen, Dachau und noch schlimmer soll es im Osten sein.

 

Und dann, Ende Mai endlich ein Lebenszeichen von Otto, ein Telegramm...“ aus Marseille in dem er von „wir“ spricht und daß sie nach Paris reisen. Dort ist auch Herbert gestrandet. Dann muß Corinna Schnabel die Briefe ab Seite 212 verlesen, in denen der Vater Otto Frank in Briefen an seine Mutter erst von Auschwitz erzählt und nach seinen 'Mädels' fragt. Er schreibt am 8. Juni 1945 dann nach Basel von dem Versteck in Amsterdam, der Entdeckung am 4. August 1944 und dem Abtransport nach Auschwitz, von wo die Mädchen nach Bergen-Belsen geschickt wurden, Edith starb und Otto am 27. Januar 1945 von den Russen befreit wurde.

 

Otto schreibt dann vom Ende aller Hoffnung, von den schriftlichen Zeugnissen von Überlebenden, daß Margot und Anne Ende März völlig entkräftet und krank im KZ Bergen-Belsen gestorben seien. Am 15. April wurde das Lager von britischen Soldaten befreit. Wir sind im Kapitel „Man darf sich nicht niederdrücken lassen“ angekommen, wo es um die Reaktionen der Familie auf die Nachricht vom Tode der Mädchen geht und man die tiefe Verbundenheit innerhalb der Familie erspürt.

 

Die Lesung wurde von den Liedern begleitet, mit denen Nora Friedrichs, Sopran, begann. Sie trug Die Wildgänse und Liebesgeschenk vom 1944 in Auschwitz vergasten Pavel Haas vor, der ein Meisterschüler Leos Janceks war. Die Ausführungen im Programmheft zu dessen Leben und Sterben zu lesen, macht einen zusätzlich stumm vor Grauen. Gurgen Baveyan, Bariton und gebürtiger Armenier, sang Lieder von Mordechaj Gebirtig, der 1942 auf offener Straße in Krakau von Nazi-Besatzern erschossen wurde. Gebirtis Lieder haben auch zu seinen Lebzeiten seine Landsleute und Leidensgenossen erreicht, sie sind echte Volkslieder und handeln vom Alltag der einfachen Leute. Aber ihm gelingen auch politisch zugespitzte Weisen wie „Undser schtetl brent – Unser Städchen brennt“ , was zur Partisanenhymne wurde. Die Liedtexte sind auf Jiddisch und so glaubt man bei Hulyet hulyet kinderlekh immer wieder, Satzfetzen zu verstehen. Gurgen Baveyan trägt innig und überzeugend und mit gewissem Schmelz vor, Nora Friedrichs hatte erst einmal musikalische Qualität vorgegeben.

 

Auch Katarina Ruckgaber sang Lieder von Mordechaj Gebirtig. Und das versteht man nun wirklich, wenn sie SCHLOF SHOYN MAYN KIND artikuliert. Im Text geht es weiter, 'mayn yingele kleyn, di eyge lekh dayne mach tsu...Auch das zweite Lied ist ein Einschlaflied: KIVELE. Es sind innige Weisen, die auch ohne den Hintergrund der Ermordung des Künstlers wehmütig und seelenvoll sind. Auch der junge Amerikaner und Tenor Michael Porter sang Mordechaj Gebirtig und seine schmetternde Botschaft war „Ikh hob dikh lib“. Die jungen Sänger bekommen das gut hin, auf der einen Seite den Ernst der Situation, was sich auf die verlesenen Texte und das Schicksal der Komponisten bezieht, in Haltung und Verhalten würdig zu gestalten und doch die Kraft der Musik, das Perlen der Töne und das Tröstliche des Gesangs wirken zu lassen.

 

Mit Maria Paniukhve, Mezzosopran und gebürtige Russin, kommt Ilse Weber zu Wort. Wir kannten sie nicht und erstarren innerlich, wenn wir im Programmblatt lesen: „Als ihr Mann im November 1944 in einen Transport eingereiht wurde, meldete sie sich mit ihrem Kind freiwillig. Gemeinsam mit ihrem Kind wurde sie in den Gaskammen von Auschwitz ermordet.“ Ihr Lied „Und der Regen Rinnt“ hatte dem Abend den Titel gegeben.

 

Foto:

Der Krakauer Tischler und Dichter Mordechaj Gebirtig, von der deutschen Besatzung auf der Straße erschossen

 

Info:

 

Mirjam Pressler/Gerti Elias „Grüße und Küsse an alle“

 

Die Geschichte der Familie von Anne Frank

Fischer Taschenbuch Verlag

432 Seiten. Kartoniert.

10,99

ISBN 978-3-596-18410-1