MURRAY PERAHIA IN HAMBURG

 

Helmut Marrat

 

 

Hamburg (Weltexpresso) – Mai. Der Pianist Murray Perahia spielt in der Hamburger Musikhalle (oder auch Laeiszhalle). Trotz lockend schönem Wetter und dem schon auf 19:30 Uhr angesetzten Beginn des Konzerts, ist das Haus sehr gut gefüllt. Einen begabten Pianisten zu hören, lohnt sich immer.

 

Ich kannte Perahia bisher nur durch zwei Bach-CDs mit je drei Partitas: Klavierkonzerten bestehend aus mehreren barocken Tanzstücken wie Allemande, Corrente, Sarabande und Gigue ... Da fiel mir sein glasklares, fast schon bis zur Fadheit glasklares melodiöses Spiel auf.

 

Daher freut es mich, dass Perahia sein Programm um ein Bach-Konzert erweitert, das er als Auftakt vor den ganzen Abend stellt. Es folgt von Joseph Haydn (1732 – 1809) die viersätzige Klaviersonate Nr. 46 As-Dur Hob. XVI:46, der er mozartische Zartheit, Verspieltheit abgewinnt. Ähnlich überraschend behandelt Perahia auch Haydns Variationen f-Moll Hob. XVII:6, das musikalisch reich anschwillt und immer wieder zart zurücktritt.

 

Immer wieder stößt er zu großen und wunderbaren Momenten vor. Auch wenn ihm die Gesamt-Durcharbeitung und -Formung nicht immer gelingt. Es ist auch spannend zu sehen, wo seine Grenzen, jedenfalls an diesem Abend und in dieser Stadt liegen; denn ein Hamburger Publikum zu gewinnen, ist nicht einfach. Man muß da viel investieren. Dafür bleiben einem die Gewonnenen aber auch länger als anderswo treu.

 

Den Höhepunkt des Konzerts bildet die „Mondschein-Sonate“ von Beethoven (1770 – 1827); deren fachgerechte Bezeichnung Klaviersonate Nr. 14 cis-Moll op. 27/2 lautet. Auch hier sind die Grenzen Perahias deutlich zu hören, aber vielleicht sollte ich gar nicht von „Grenzen“ sprechen, denn es geht nicht um Beschränkungen im Negativen, also um Unvermögen - sondern eher um die Richtung, die er wählte oder der er zufiel. Etwas vereinfacht gesprochen, gliedert sich das Beethovensche Erbe in drei Kategorien auf: Auf das virtuose Beherrschen und Behandeln der Form, also die Liszt-Schule; dann auf das Gefühlige, Weich-Inhaltliche, was dann bei Brahms (1833 – 1897) aufging; schließlich, von der 9. Symphonie ausgehend, die Entwicklung ins Musiktheater hinein, jene Kategorie, die Richard Wagner (1813 - 1833) ausformte.

 

Perahia steht eindeutig in der Nachfolge Franz Liszts (1811 – 1886). Daher geben die ersten beiden Sätze der „Mondschein-Sonate“ für ihn nicht viel her. - Wie anders spielte da noch sein Lehrer Rudolf Serkin (1903 – 1991), am selben Ort. Da sangen die oberen Melodie-Töne über alles hinweg, hielten trotz aller Behutsamkeit, trugen, trugen den ganzen fast unendlich breit angelegt wirkenden 1. Satz. --- Der 2. Satz könnte etwas Frech-Tänzerisches, Vorwitziges haben, aber er bleibt bei Perahia matt. --- Beeindruckend aber ist (und bleibt!), wie Perahia dann den 3. Satz gestaltet: Das architektonische Gerüst herausgehämmert, wie ich es noch nicht zuvor gehört habe. Keine Aufteilung in Lyrisches und Dramatisch-Mechanisches, sondern die lyrischen Partien werden mit zum architektonischen Gerüst geschlagen. Das ist eine unvergessliche Leistung. Immer wieder mit Steigerung. Der Applaus zur Pause ist denn auch, ja, man kann das sagen: frenetisch ...

 

 

Was ist das eigentlich für ein sonderbarer Name: Murray Perahia? Der Nachname klingt portugiesisch; und ich lese nach, dass Murray Perahia von sephardischen Juden abstammt, also von Vorfahren, die zwischen 1492 und 1513 von der Iberischen Halbinsel im Zuge der Rekatholisierung vertrieben wurden. Und zwar aus Spanien (ab 1492), ebenso wie etwas später dann aus Portugal (ab 1497). Die Fliehenden fanden neue Lebensmöglichkeiten meist in näher oder ferner gelegenen Hafenstädten des Mittelmeers, aber auch des Atlantiks und der Nordsee.

 

Die Perahias fanden ihre neue Lebensmöglichkeit in Thessaloniki, das bis 1941 wegen seines Anteils von etwa 20 Prozent sephardischer Bevölkerung als „Jerusalem des Balkans“ bezeichnet wurde. Bis 1941 deswegen, weil der Balkan dann – ausgelöst durch die Großmannssucht des faschistischen, aber militärisch scheiternden Italiens – zur Waffenhilfe gerufen worden war.

 

Murray Perahias Vater war allerdings schon 1935 in die USA ausgewandert. Dort wurde Murray Perahia am 19.4.1947 in der Bronx, dem nördlichsten Stadtbezirk von New York, geboren. Sein ursprünglicher Vorname war aber Moshe. Er sprach, wie nachzulesen ist, mit seinem Vater Ladino oder Judenspanisch. Ein sonderbarer Ausdruck! Denn er klingt herabsetzend. Sein Ursprung mag genau da liegen. Dieses Judenspanisch, aber bei Wikipedia als Fachbegriff behandelt, entspricht oder entsprach dem Jiddisch der östlichen, aschkenasischen Juden.

 

Perahia veränderte seinen Vornamen in Murray. Vielleicht in Anspielung an den New Yorker Stadtteil Murray Hill, der sich in Nord-Süd-Richtung in etwa von der 28. oder 29. Straße bis zur 40. bis 42. Straße und in West-Ost-Richtung etwa vom Empire State Building bis zum East River hinzieht ...

 

 

Nach der Pause spielt Murray Perahia zunächst ein umfangreiches Klavierstück von César Franck (1822 – 1890); es heißt: Präludium, Choral und Fuge FWV 21 von 1884. Das ist mutig, nach dem hochreißenden Beethoven nun das Publikum mit einem Stück, das ganz ruhig, beinahe beschaulich, sehr ausführlich jedenfalls und zunächst völlig undramatisch anfängt, wieder fesseln zu wollen. Und es dauert einige Zeit, bis das Publikum sich wieder zurechtgefunden hat. Dieses große Klavierstück geht auf barocke Musik und hier vor allem auf Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) zurück. Franck hatte sich lange mit dieser Musikepoche beschäftigt. Herausgekommen dabei ist sozusagen ein neobarockes Kunstwerk; einerseits schlicht oder eher zurückhaltend; andererseits vergoldet-überladen wie die Baukunst dieser Zeit, die in Frankreich "Stil Napoléons III." benannt wurde.

 

So fehlt Francks Stück die ganz nüchterne Klarheit Bachscher Musik. Es ist mehr barock als Bach, oder anders gesagt, ein verkröpfter, verquaster Barock. Das Ergebnis ist kunst- und musikgeschichtlich ebenfalls bedeutsam. Seine Schwierigkeit für den Pianisten scheint weniger in der Präzision der Logik zu liegen als in der ergänzenden Ausstattung: Der Logik plus Verzierungen, - und dabei die Übersicht zu behalten. Perahia gelingt das. Und es packt die Hörer allmählich immer mehr. Zumal Francks Fuge bedeutende dynamische Steigerungen aufweist. Es gelingt, die Höhe des letzten Satzes der "Mondschein-Sonate" wieder zu erklimmen, die ja übrigens nur eine dreisätzige Sonate ist, so, als sei der erste Satz, - und wie zu vermuten ist: Ein schneller stringenter Eröffnungssatz -, fortgelassen und gleich mit dem langsamen 2. Satz begonnen worden ...

 

Frédéric Chopins (1810 – 1849) Nocturne op. 27 Nr. 2 Des-Dur und sein Scherzo Nr. 1 h-Moll op. 20 beschließen das Programm. Das Interessante an diesem Konzert ist auch: Dass einem als Hörer so viele verschiedene Musikarten und -stile vorgestellt werden; dass sich Perahia vor unseren Ohren an verschiedenstem Material erprobt, so dass wir seine Kapazitäten kennenlernen können. Chopin birgt in sich, wie Alfred Kerr (1867 – 1948) es klug benannte, immer die Gefahr, ins Drehorgelmäßige abgleiten zu können. Murray Perahia ist kein erzählender Chopin-Spieler, wie es beispielsweise Arthur Rubinstein (1887 - 1982) gewesen ist. Auch hier arbeitet Perahia die Konstruktionsform heraus und bringt damit neue Dimensionen Chopins zum Erklingen.

 

Der Applaus ist stark. Natürlich: Denn der Applaus soll auch immer noch Zugaben herausschinden. Aber der Unterschied ist jeweils deutlich zu hören; und wieviel mehr für einen feinnervigen Pianisten. Man wünscht schließlich Zugaben ja auch nicht von jedem zu hören! Der Ausgang des Beifalls ist also ganz eindeutig: Respekt und Bewunderung. - Kurzer, starker Applaus.

 

 

Info:Das Konzert fand statt im Rahmen von ProArte am 4.5.2015. Die nächsten Konzerte dieser Reihe heißen, jeweils um 19:30 h in der Musikhalle/Laeiszhalle: Sir András Schiff (29.5.2015) und Hélène Grimaud (8.6.2015). Nächstes Konzert im Zyklus B: City of Birmingham Symphonie Orchestra mit Klaus Florian (Tenor) und Andris Nelsons als Dirigent (4.6.2015).