ANDRÁS SCHIFF IN HAMBURG
Helmut Marrat
Hamburg (Weltexpresso) – Mai. Das Programm stand bereits vorab fest: Johann Sebastian Bach. Und zwar: Ausschließlich Bach. Ich ging daher mit der Frage in dieses Konzert, ob ein Klavier-Abend mit Werken von Bach durchgehend tragen würde.
Vielleicht aber reizt gerade die Konzentration auf einen einzigen – und es ist keine neue Entdeckung zu sagen: einen der größten Komponisten, die dieses Land je hervorgebracht hat -, denn das Haus ist sehr gut gefüllt. Auf dem Platz vor der Laeiszhalle drängen sich die Menschen, und es ist nicht leicht, einen Parkplatz zu finden.
Der Pianist András Schiff spielt in der Hamburger Musikhalle (oder auch Laeiszhalle). Einen begabten Pianisten zu hören, lohnt, wir wissen es, immer. - Ich kannte András Schiff bisher nur von Ferne. Seit je aber hat er mich angezogen und gereizt.
Jetzt ist es also so weit: Das Publikum ist ruhig geworden; erwartungsvolle Stille; das Konzert kann beginnen. András Schiff kommt auf die Bühne in fast pastoraler Aufmachung. Nicht aber „ländlich“ ist hiermit gemeint, - und man denkt natürlich an Beethovens Symphonie Nr. 6, „Die Pastorale“ (F-Dur, op. 68 von 1808) -, sondern die Vorstellung eines Geistlichen: Dunkel gekleidet und schlicht, ernst. Später lese ich, dass sich Schiff aller pianistischen Selbstdarstellung immer geflissentlich enthält.
Der Abend beginnt mit dem „Italienischen Konzert“ F-Dur BWV 971. Das ist ein dreisätziges Konzert (Allegro – Andante – Presto), mit einer tempomäßigen Steigerung zum letzten Satz hin, das wesentlich auf Bachs Studien der italienischen Konzertform, vor allem der Antonio Vivaldis (1680 – 1743), beruht. Bach hat mehrere Konzerte Vivaldis für andere Instrumente umgeschrieben und auf diese Arbeit große Sorgfalt verwendet – aus Bewunderung für Vivaldi. „Ohne Zweifel hat Bach von Vivaldi manche Anregung empfangen, um dann allerdings in jeder Hinsicht weit über ihn hinauszuwachsen.“, schreiben Gerhart v. Westermann und Karl Schumann. (In: Knaurs Konzertführer, 1957/1969, S. 39.) - „Der erste Bach-Biograph Johann Nepomuk Forkel (1749 – 1818) ging sogar so weit zu behaupten, Bach habe an Vivaldis Konzerten 'musikalisch denken' gelernt.“, heißt es in dem knapp und gut aufgemachten Programmheft.
Bach hat das „Italienische Konzert“ im 2. Teil seiner „Clavier-Übungen“ veröffentlicht. Zu diesen „Clavier-Übungen“ werden auch die anderen Stücke des Abends gehören. Es handelt sich also in doppelter Beziehung an diesem besonderen Abend um ein Lern- oder Lehr-Konzert: Bach lernte an diesen Kompositionen vieles der Kompositionstechnik der Zeit vor ihm kennen; und er schuf Übungsstücke für Pianisten; - eine Vervollkommnung also auf zwei Ebenen.
Die größte Schwierigkeit für einen Pianisten besteht für mich darin, dass man mit beiden Händen verschiedene Dinge ausführen muss. Verschiedenes Tempo, unterschiedlicher Rhythmus, oft ganz widersprüchlich Wirkendes. Man kann sich nicht nur auf eine Tätigkeit, eine Richtung konzentrieren. Beide Gehirnhälften müssen völlig unabhängig voneinander, gelegentlich sogar gegeneinander agieren. Und dann muss doch alles auch wieder zusammenwirken, sich zu einer Einheit verbinden. Das schon allein ist eine erhebliche Schwierigkeit.
Dabei sind das nicht nur eindrucksvoll mechanische Fingerübungen, denen wir zuhören. Es gibt in diesen Stücken Stellen von musikalischer und melodischer Eigenart, die unvergeßlich sind. So verhält es sich auch mit dem nächsten Konzert-Stück, der Partita h-Moll BWV 831, bezeichnet als „Ouvertüre nach französischer Art“. Das war der andere der beiden Bezugspunkte: Das Frankreich des Barock, des Absolutismus. Dieses Konzert stammt ebenfalls aus dem 2. Band der „Clavier-Übung“, von 1735. Es weist aber eine ganz andere Struktur auf als ein italienisches Konzert. Es besteht aus mehreren Tanzstücken, eingeleitet von einer langen Ouvertüre mit Fugen-Charakter. Ich denke an César Francks (1822 – 1890) Präludium, Choral und Fuge (FWV 21, von 1884) zurück, die Murray Perahia kürzlich am selben Ort vorgetragen hat, denn Franck bezog sich bewusst auf die Bachsche Fugentechnik. - Hier also die ursprünglichere Form. Der Ouvertüre folgen neun barocke Tanzstücke, nämlich: Courante/ Gavotte I/ Gavotte II/ Passepied I/ Passepied II/ Sarabande/ Bourrée I/ Bourrée II und Gigue, die schließlich von einer kunstvollen Echo-Partie abgeschlossen werden.
Auch hier finden wir wieder Musikstücke von unglaublicher Süße und Schönheit, wie etwa die beiden Gavottes. Der Aufbau drängt aber zu fulminanter Motorik oder mechanischer Bewältigung des Stoffen hin. Ja, als habe sich eine mechanische und zunehmend rhythmische Wundermaschine von ihren Fesseln befreit. Und was Alfred Kerr (1867 – 1948) über Chopin äußerte, dass er nämlich dem Drehorgelhaften mitunter nur knapp entgehe: Etwas Vergleichbares ließe sich über die Klaviermusik Bachs ebenfalls sagen. (Daher meine Frage vor Beginn des Konzerts.) - Es sind, man muss sich das vergegenwärtigen: Neben aller kompositorischen Vollkommenheit und Schönheit ja tatsächlich praktische Übungsstücke für Pianisten. Zumal: Auch das darf nicht übersehen werden: Viele dieser Partien war nicht für ein Klavier geschrieben worden, sondern für ein Cembalo, das andere, teils mehr, teils weniger technische und spielerische Möglichkeiten bietet als ein Fortepiano.
Das französische Vorbild hat dann aber in der deutschen Musikgeschichte nicht die lang anhaltende Wirkung gehabt; es war das italienische Vorbild, dessen Konzertform für die Konzeption der nachfolgenden Klaviersonatik ein durchschlagenderes Beispiel abgegeben hat; vielleicht wegen seines klareren, seines einfacheren und auch epischeren Aufbau-Schemas.
Noch etwas anderes fiel mir während des Konzerts auf: Dieses Bachsche Werk, die „Ouvertüre nach französischer Art“, endet in einem rhythmisch-furiosen Schlußsatz. Der Beifall danach war stark, außerordentlich stark und voller Anerkennung für den Pianisten, und Begeisterung. Und ich fragte mich angesichts der Tatsache, dass vor der Pause im Perahia-Konzert ebenfalls ein konstruktiv und rhythmisch stark eindrucksvoll gegebenes Stück die Hörer zu Bravos und Begeisterung brachte, ob das Hamburger Publikum nicht generell durch Rhythmisch-Mechanisches- und Konstruktives am stärksten zu begeistern sei?
Nach der Pause
Den zweiten Teil des Konzertes bilden die berühmten Goldberg-Variationen. Auch sie wurden von Bach in seine „Clavier-Übung“ aufgenommen – und bilden den ganzen 4. Teil dieses Lehrwerkes. Es handelt sich bei diesen Variationen nicht um Variationen, die Bach auf eine Komposition eines Herrn Goldberg geschrieben hat, wie man vielleicht annehmen könnte. Sie haben auch nur mittelbar mit einer Person namens Goldberg zu tun. - Diese Variationen waren auch kein Gelegenheitswerk im Sinne von müßigem Zeitvertreib, sondern ein Auftragswerk. Auftraggeber war Hermann Carl Reichsgraf v. Keyserlingk (1696 – 1764), der häufig kränkelte und für seine Nächte ohne Schlaf eine Erheiterung und Ablenkung suchte. (TV gab es noch nicht; so mussten sich die Menschen etwas einfallen lassen.) Die Stücke, die Bach schrieb, sollten „so sanften und munteren Charakters“ sein, dass sie eine wo nicht heilsame, doch lindernde Wirkung auf Keyserlingk haben sollten.
Bach ging dabei von einer kurzen Aria aus. Von dieser Bachschen Aria übernahm er aber nicht die Melodie, sondern die Grundkonstruktion. Und dieses Grundgerüst variierte er dreißig Mal. Dabei ist dieses ganze Musik-Konvolut überaus kunstvoll geordnet und aufgebaut. Es besteht aus zehn in Dreiergruppen zusammengefassten Stücken, die sich in ihrer Anforderung an den Pianisten steigern, bis zu einem Schwierigkeitsgrad, der nur noch durch höchste Ansprüche erfüllt werden kann. Es wechseln schnelle und langsam-getragene Stücke miteinander ab. Immer wieder ist diese Musik belebend und von großer Schönheit. Aber auch hier handelt es sich um pianistische Übungsstücke, wenn auch auf allerhöchstem Niveau: Eine bewundernswürdige Leistung des Pianisten!
Dem Auftraggeber Keyserlingk wurden diese Stücke jedoch nicht durch Bach selbst vorgespielt, sondern durch einen jugendlichen Knaben, dem Bach auf diese Weise, en passant, auch Klavierunterricht erteilte: Durch Johann Theophilus Goldberg (*1727 in Danzig), der später sogar selbst einige Stücke für Klavier komponierte; 1751, (ein Jahr nach Bachs Tod) Kammermusiker des Grafen Brühl (1700 – 1763) in Dresden wurde – und selbst 1756, im Alter von 29 Jahren starb; im Geburtsjahr Mozarts (1756 – 1791).
Der Applaus ist bedeutend und lang anhaltend. András Schiff kommt mehrere Male auf die Bühne zurück, bekommt einen Blumenstrauß überreicht, und natürlich fragt man sich, ob es eine Zugabe geben werde. Kann es aber nach einem solchen Konzert überhaupt eine Zugabe geben? Und wenn ja: Was für ein Stück könnte es sein? Oder ist das Konzert zuende? Auch das wäre gut so. Denn das Gebotene war so abgerundet, dass ich mir eine Zugabe schwer vorstellen kann.
Und doch gibt es eine: Aber sie fällt gänzlich anders aus, als man das von „Zugaben“ normalerweise gewohnt ist. Also kein maximal 3-minütiges Star-Stück. Zwar: Ich erkenne das Stück sofort wieder, musikalisch, aber ich erkenne es nicht! Ist es von Schumann? Von Chopin wohl kaum. Es wird mir nicht klar, und dabei kenne ich jede Note. Das Stück passt in diesen Raum wie angegossen. Also 19. Jahrhundert! Wie weit ist der Abstand noch zu Bach! Wieviel Zeit liegt dazwischen? Hundert Jahre? Hundertfünfzig?
András Schiff hatte es kurz angesagt, aber ich hatte das nicht genau verstanden. Sagte er nicht: „No Bach!“? Aber für eine Zugabe ist es viel zu lang! Und plötzlich begreife ich: Schiff spielt eine ganze vollständige Sonate von Ludwig van Beethoven, und zwar die Nr. 30 op. 109 in E-Dur. Das ist zum Hinschmelzen. So gut habe ich diese Sonate noch nie im Konzert gehört. (Letzthin von Maurizio Pollini in der Berliner Philharmonie; aber matt, schwach, glanzlos.) Hier wird man umschmeichelt, verwöhnt. - Ich habe den Eindruck: Auch András Schiff verwöhnt und entspannt sich selbst nach der Bachschen Anstrengung durch diese Sonate. - Eine Erzählung fällt mir ein: Ein Kriegskind kannte lange Zeit nicht den Genuss von Erdbeeren mit Schlagsahne. Ihre Mutter versuchte ihr diesen Geschmack zu beschreiben, indem sie sagte: "Es schmeckt wie Samt und Seide." --- Daran dachte ich bei diesem Hör-Genuss, der jetzt noch nachwirkt.
Foto: Wolfgang Mielke
Info:Das Konzert fand statt im Rahmen von ProArte am 29.5.2015. Das nächste Konzert dieser Reihe, jeweils um 19:30 h in der Musikhalle/Laeiszhalle, heißt: Hélène Grimaud (8.6.2015). Nächstes Konzert im Zyklus C: Anne-Sophie Mutter (Violine) und Lambert Orkis (Klavier) (22.6.). Das 1. Konzert des Zyklus A in der Saison 2015/2016: Khatia Buniatishvili (Klavier) mit Werken von Ravel, Liszt und Strawinsky.