Johann Sebastian Bachs "MATTHÄUS-PASSION" in der Hamburger neuen Nikolaikirche, Teil 2

 

Helmut Marrat

 

Hamburg (Weltexpresso) – Mit diesen gehörten, gesehenen Aufführungen im Gedächtnis hört man als Kritiker eine neue, diese Interpretation. Dass man sich überhaupt noch mit Kunst in dieser Weise beschäftigen kann, dass man überhaupt noch eine Interpretation mit der anderen vergleicht, ist ein Zeichen weniger von Luxus, als von einem Leben, so wie wir es gewohnt gewesen sind. Es sollte so bleiben.

 

Ob es das wird, werden kann, ist weniger sicher. Aber noch ist es so – und wir wollen es loben und verteidigen, dass es so bleiben und sein kann. In wenigen Jahren kann es vielleicht schon passieren, dass ein Trupp arabischer Fundamentalisten die Kirche während eines solchen Konzertes stürmt und die Anwesenden per Maschinenpistole ausradiert, weil sie das Konzert für einen Gottesdienst hält; Christen sind in deren Augen ja Ungläubige; sie hingegen für uns nur Andersgläubige; unsere Toleranz ist da erheblich größer und wir haben nicht das Bedürfnis, sie zu missionieren oder gar zu liquidieren.

 

Mit der Auffassung einer Bachschen Passion als Gottesdienst wären diese Leute allerdings Bach durchaus nahe, der seine Passionen für die Gottesdienste schrieb und sie als Bestandteile eines Gottesdienstes auffaßte.

 

Um es vorweg zu nehmen: Hoffmann-Borggrefe gelingt nicht ein einheitlicher, großer, starker Gesamteindruck; aber es gelingen ihm zahlreiche wertvolle und im Gedächtnis nun ebenfalls eingeschriebene Einzeleindrücke, die einer zukünftigen Aufführung der Matthäuspassion nun entgegengehalten werden müssen.

 

Es dauert ein bißchen, bis Chöre und Orchester warmgelaufen sind. Der Eingangs-Chor kommt noch nicht so richtig in Gang – bis auf den Cantus firmus der jungen Knaben vor dem Stimmbruch, der leicht und metallisch über dem Grund-Chor schwebt und zwar getragen wird, aber im Rückblick auch trägt. Der Tenor des Evangelisten (Lothar Blum) prägt dann aber die ersten Abschnitte der Aufführung als wirkliche tragende Stütze mit einiger Reinheit. Gewöhnlich ist der erste Teil der Matthäuspassion für das Publikum etwas fordernder als der zweite Teil; scheint mehr Energie zu verbrauchen als auszusenden, während es sich beim zweiten Teil genau anders herum verhält.

 

Bei Hoffmann-Borggrefe merkte ich von dieser (etwas gefürchteten) Gesetzmäßigkeit nichts. Vielleicht lag es daran, dass die Aufführung eben erst allmählich in Gang und zu höherer Intensität gelangt – und vielleicht auch gelangen soll. 'Normalerweise' hat man im ersten Teil den Höhepunkt des Eingangs-Chors, dann noch die "Buß- und Reu"-Arie und danach sackt es bis auf einige mittlere Höhepunkte bis zur Pause ab. Hier jetzt in Hamburg war es anders: Einer der großen Höhepunkte der Aufführung war für mich das Duett von Sopran (Gudrun Sidonie Otto) und Alt (Juliane Sandberger). - "So ist mein Jesus nun gefangen", Nr. 33 nach der BWV-Zählung -, deren Stimmen, Stimmlagen, Modulationen sich ganz wunderbar ergänzten und auch so, als würde die Gemeinsamkeit oder auch meinetwegen die Konkurrenz zu dieser wunderbar gesteigerten Leistung beflügeln.

 

Gleich danach brechen dann machtvoll die beiden Chöre los: "Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?", was von Bach ja auch, wie nicht wenig anderes, sogleich lautmalerisch durch die Instrumentierung der Kompostion (hier durch die 'blitz-hellen' Querflöten) nacherlebbar gemacht wird. Das ist alles schon sehr gut einstudiert. Das BWV zählt 78 Abschnitte in der Matthäuspassion. Aber nicht jeder Abschnitt hat eine eigene Nummer erhalten. 24 Abschnitten fehlt eine solche Zahl. Auch der "Blitze"-Chor hat keine eigene Ordnungszahl, sondern gehört zur Nr. 33, den auch das Duett schon hatte. Einstudiert müssen aber alle Teile, alle, rechnet man zusammen, 102 Teile.

 

Das alles perfekt und in der gleichen Intensität hinzubekommen, ist schon eine hohe Anforderung, der wahrscheinlich allein schon technische und organisatorische Probleme entgegenstehen, wie die Verfügbarkeit der Solisten, aller Orchester-Musiker, aller Chor-Teilnehmer und schließlich noch des jugendlichen Knaben-Chors. Ich habe selbst aufwendige und personenreiche Theaterproduktionen inszeniert und weiß, wie schwer es manchmal ist, alle Teilnehmer für längere Zeit zu versammeln. Das muß ja doch auch mitbedacht werden.

 

Im zweiten Teil fielen mir vor allem mehrere Zäsuren auf, die Hoffmann-Borggrefe in einige Choräle setzte – und hier in die besonders bekannten Choräle wie Nr. 53 "Befiehl du deine Wege", Nr. 63 "O Haupt voll Blut und Wunden", Nr. 72 "Wenn ich einmal soll scheiden", die ja alle auf der selben Melodie basieren, nur in einer anderen Tonart jeweils erscheinen, oder Nr. 73 "Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen". Dahinter steht sicherlich das Bemühen, die so bekannten, vielleicht allzu bekannten Choräle noch einmal neu hörbar zu machen. Es dokumentiert sich hier natürlich auch die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung mit der Partitur. Ob diese Fermaten und teils schon Generalpausen immer die gewünschte Wirkung haben, darüber ließe sich sicher streiten. Aber sie bleiben als Akzente doch im Gedächtnis - mehr sie als die Choräle selbst; diese eher mittelbar durch gerade diese Zäsuren.

 

Was immer auffiel, schon während der ersten Hälfte, war das saubere Sprechen oder Artikulieren im Singen der Choräle. Bei den meisten Aufführung ist der jeweilige Wortlaut nur zu ahnen oder eben mitzulesen, wenn man das Textbuch vor sich aufschlägt. Hier verstand ich fast alles gestochen scharf. Ob das an der Akustik des Raumes lag oder an dem Gewicht, dass hierauf bei der Einstudierung gelegt wurde, darf offen bleiben.

 

Der Höhepunkt des zweiten Teils wurde für mich die Bass-Arie "Mache dich, mein Herze, rein" (Nr. 75), die von Jonathan de la Paz Zaens gesungen wurde. Dieser Sänger trat ohnehin mehr und mehr erfreulich in den Vordergrund. Es gibt ja sehr unterschiedliche Partien. Die Partie des Sängers des Jesus Christus beispielsweise ist viel weniger umfangreich, als das Thema es erlauben würde. Die wesentlichen Anteile hat bei Bach immer der Evagelist, der gewöhnlich ein Tenor ist. Dann gibt es jeweils herrliche Arien für Alt und Sopran, meist mit einem kurzen Einführungs-, Vorlaufs-, oder technisch gesehen: Anwärmungsstück, der dann die große Arie folgt.

 

Im Laufe des Stückes verstummt Jesus immer mehr. Daher vermindern sich auch seine Gesangspartien entsprechend. Dagegen treten Pontius Pilatus, Johannes und andere Funktionsträger mehr und mehr in den Vordergrund. So auch hier: In dieser Arie des Johannes, die Hoffmann-Borggrefe geradezu lecker anrichten und darbieten läßt. Es wird ein Ohrwurm! Aber von welcher Qualität! Das klingt also nach – und ließ die Aufführung, zusammen mit manch anderem, zum Erlebnis werden.