Johann Sebastian Bachs "MATTHÄUS-PASSION" in der Hamburger neuen Nikolaikirche, Teil 1

 

Helmut Marrat

 

Hamburg (Weltexpresso) – Die Hamburger Neue St. Nikolai-Kirche gehört zu den gelungensten Kirchenbauten der Nach-2.-Weltkriegszeit. Etwas übertrieben könnte man sagen: Es ist Hamburgs Ronchamp-Kirche von Le Corbusier von 1955. Die Neue St. Nikolai-Kirche wurde 1960-62 von Dieter und Gerhard Langmaack gebaut.

 

Sie besteht aus zwei wesentlichen Baugruppen: Einem hochrechteckigen Kastenbau, von dem aus sich der hohe, sehr spitz, fast wie eine Nadel, zulaufende Turmhelm hochreckt. Der Kastenbau dient dieser Turmspitze, die nicht mittig aufsitzt, als Sockel. Der Reiz dieses Kastenbaus besteht in dem hohen neugotischen Fenster mit neugotischer Fensterrose. Die Wirkung ist aber eine gotisch-mittelalterliche. Diese Fenster waren 1939 von Elisabeth Coester noch für die alte Nikolai-Kirche geschaffen worden, aber wegen des Krieges nicht mehr eingebaut. So überdauerten sie unversehrt den Krieg. Die alte Nikolai-Kirche war 1846-74 von dem englischen Architekten George Gilbert Scott als Ersatz für die im Großen Brand von Hamburg 1842 zerstörte Vorgängerkirche erbaut worden – und wurde selbst 101 Jahre später, im Sommer 1943, ein makaberer Zusammenhang, wenn man so will, wiederum von England aus durch die Bombardierung im Sommer 1943 weitgehend zerstört.

 

Interessant ist, dass die Fenster Szenen aus der Johannesoffenbarung zeigen, einem Text, der den im römischen Reich unterdrückten Christen Mut und Hoffnung machen sollte. Eine Analogie zum Dritten Reich ist anzunehmen. - Dieser kastenartige Raum wurde nicht nur auf dieses besondere Fenster zugeschnitten, sondern er

dient auch als Eingang und Vorraum für die eigentliche Kirche, die sich tropfenförmig anschießt. (Daher der Vergleich mit Le Corbusier.) - Es heißt, die Akustik dieses Raumes sei eine der besten aller Hamburger Kirchen.

 

Matthias Hoffmann-Borggrefe ist der musikalische Leiter der Kirche. Und so war es interessant, seine Interpretation der Bachschen Matthäuspassion kennenzulernen. Manches klingt aus ihr nach. Die Uraufführung der Matthäuspassion fand am 11.4.1727, Karfreitag, in Leipzig statt. Bach hat das Werk später noch überarbeitet. Und die Version, die heute allgemein aufgeführt wird, stammt aus dem Jahr 1736. Bach hat große Mühe darauf verwendet, sie in Reinschrift zu bringen. Sein Autograph gehört zu den kostbarsten Exponaten der Berliner Staatsbibliothek. Es sind keinerlei Reaktionen der Zeitgenossen Bachs über die Matthäuspassion überliefert, obwohl sie mehrfach aufgeführt wurde.

 

Heute gilt sie als eins seiner größten Werke. 1829 wurde sie von Felix Mendelssohn Bartholdy erstmals wieder seit Bachs Tod aufgeführt. Diese Aufführung leitete eine Bach-Renaissance ein, die sich – mit zahlreichen Lücken – durchs 19. Jahrhundert zog. Am Übergang zum 20. Jahrhundert hatte sich die Matthäuspassion aber als geistiger Bestand des Bürgertums etabliert. Wurde das Werk meist gekürzt und mit Mammutbesetzungen von 300 – 400 Musikern gezeigt, wurde die Matthäuspassion 1912 erstmals ungekürzt aufgeführt. - So auch in der Neuen Nikolai-Kirche in Hamburg.

 

Woran mißt man die Qualität einer Aufführung? Natürlich kenne ich die maßgeblichen Aufnahmen von Karl Richter, wie auch einiger nachgeordneter Dirigenten wie etwa Helmuth Rilling. In Würzburg hörte ich einmal eine wirklich sehr profilierte Aufführung in einer ebenfalls modernen Kirche, unweit der Würzburger Residenz. Ich hörte sie auch in der Hamburger St. Michaeliskirche, dirigiert von Günter Jena. (Im Michel muß man aber aufpassen: Eine gute Akustik hat man hier nur auf den Plätzen auf der Empore gegenüber der Orchesterempore und im freien Kirchenschiff. Auf den Sitzeplätzen unter der Zuschauer-Empore ist die Akustik schon deutlich gemindert; und von den Plätzen unter der Orchester-Empore gilt das noch in erheblich verstärktem Maße.) Ein sehr starker Eindruck war die inszenierte oder halbwegs inszenierte Matthäuspassion durch Götz Friedrich. Das sind Vergleichs-Aufnahmen, zu denen auch noch die von Wilhelm Furtwängler gehört. Fortsetzung folgt