Das Jazz Festival Montreux am Genfer See 2012

 

Von Notker Blechner

 

Montreux/ Frankfurt (Weltexpresso) – Die meiste Zeit im Jahr ist Montreux Treffpunkt der Reichen, Senioren und Schönen, die am See flanieren und in den Kliniken ihre Falten wegretuschieren lassen. Beim Festival von Montreux ist alles anders: Dann strömen tausende Musikfans und junge Menschen, die abtanzen wollen, in die mondäne Stadt am Genfer See.

 

 

Die umjubelten Stars des diesjährigen Festivals waren Jethro Tull, Katie Melua, van Morrison, Bob Dylan, Tony Bennett, Jessie J, Grace Jones und… Herbert Grönemeyer. Für den meisten Gesprächsstoff am Rande des Festivals sorgte freilich ein nackter Mann.

 

Eigentlich gelten die französischsprachigen Schweizer, die "Romands" oder "Welschschweizer", als tolerant und aufgeschlossen. Aber was sie da auf großformatigen Plakaten sahen, ging manchen doch zu weit. Ein Mann im Adamskostüm, der nach hinten schaut, warb mit dem Slogan "Listen!" für das Jazz-Festival von Montreux. "Was hat ein Nackter mit Musik oder Jazz zu tun?", fragten sich da einige Bürger.

 

"Nacktheit hat ähnliche Wirkung wie Musik"

War den Festivalmachern nichts Kreativeres eingefallen? Oder griffen sie aus blanker Not zur nackten Haut? Mitnichten, beteuern die Organisatoren. Festival-Chef Claude Nobs sagt, er habe den Starfotografen Greg Gorman freie Hand gelassen bei der Auswahl seines Plakat-Motivs. Gorman habe sich bei der Durchsicht aller Festival-Plakate gedacht, wieso mal nicht wieder einen Akt - einen männlichen Akt - abzubilden. Denn "Nacktheit kann faszinierend für gewisse Betrachter, aber auch unbehaglich wirken. Musik kann eine ähnliche Wirkung haben."

 

Schon einmal warb Montreux mit nackter Haut. 1969 posierte auf dem Festivalplakat eine hüllenlose Frau mit Trompete im Hintern. Damals war der Ärger in der Bevölkerung noch größer. Manche Geschäfte verdeckten einfach verschämt die nackte Frau auf dem Plakat.

 

Fotos mit dem Adonis

Auf Facebook und auf dem Festival wurde der anonyme Nackte zur Attraktion. Zahlreiche Gäste ließen sich im Kongresszentrum mit dem nackten Mann im Hintergrund ablichten. Die Lokalzeitung 20minutes veranstaltete gar einen Fotowettbewerb, an dem Männer und Frauen mit ähnlichen Aktbildern ihr "Vorbild" imitieren konnten. Der Sieger durfte dann den Festival-Mann treffen, den 21-jährigen Graffitikünstler Jordan David Miles.

 

Da geriet fast ein wenig in den Hintergrund, worum es eigentlich in Montreux ging: die Musik. Und davon gab es allerlei zu hören. Über zwei Wochen lang traten zahlreiche Künstler und Bands drinnen und draußen auf, um den Besuchern einzuheizen.

 

Während es am Seeufer Open-Air-Gratiskonzerte von Jungtalenten aus allen verschiedenen Musikrichtungen gab, liefen allabendlich in der Miles-Davis Hall und im Stravinski Auditorium die kostenpflichtigen Konzerte der Top-Stars. Ab 80 Franken gab's einen Stehplatz, rund 200 Franken mussten Besucher für einen Sitzplatz hinblättern.

 

Von Amy Mac Donald bis Jessie J

Festival-Chef Nobs gelang es auch dieses Jahr wieder, eine bunte Mischung aus arrivierten Altstars und aufstrebenden Jungmusikern zusammenzustellen. So begeisterten gleich zur Eröffnung die neue Schweizer Pophoffnung Bastian Baker und die schottische Newcomerin Amy Macdonald ("This is the Life"), angeblich die Lieblingssängerin von Bundestrainer Joachim Löw, das Publikum mit sanften Popsongs. Tags darauf wandelte Kassav den Stravinski-Saal in eine riesige Zouk-Tanzfläche um. Spätestens beim Kulthit "Zouk-la-sé Sel Médikaman Nou Ni" hielt es niemanden mehr auf den Plätzen. Die Gruppe aus Guadeloupe spielt schon seit über 30 Jahren zusammen und verbindet unterschiedliche Stilrichtungen wie Kompas, Reggae und Salsa.

 

Einen umjubelten Auftritt feierte das neue britische Popsternchen Jessie J in Montreux. In kurzen Jeans und bauchfreiem Oberteil brachte sie Teenies ins Kreischen. Jeden ihrer Songs kommentierte sie. So gestand sie, dass ihr Erfolgshit "Who you are" in einem Gefühl extremer Einsamkeit in Hollywood entstanden sei. Dann signierte Jessie J einen Apfel und warf ihn ins Publikum. Später holte sie einen jungen Mann auf die Bühne, der mit ihr einen Hit mitsingen durfte.

 

Magische Momente mit Bob Dylan

Unter den Altstars stach besonders Bob Dylan hervor. Der 71-Jährige zeigte, dass er nichts verlernt hat. Und dass er immer noch seine Starallüren hat. Fotos ließ er nicht zu. Zwar hat Dylan nicht mehr die ausdrucksstarke Stimme wie früher. Aber als er seine besinnlichen Songs wie "Tryin' to Get to Heaven", "Simple Twist of Fate" und "Forgetful Heart" zelebrierte und die Mundharmonika herausholte, spürte man einen Hauch von früheren Glanzzeiten im Stravinski-Saal. "Forgetful Heart" spielte Dylan mit seiner legendären Mundharmonika. Zum krönenden Abschluss des Konzerts gab es den Song "Blowing in the wind", den Bob Dylan vor 50 Jahren komponiert hatte und der zur Hymne der Protestbewegung wurde.

 

Ein makelloses Comeback legte Jethro Tull hin. Mit seiner Flöte und seinen teils provozierenden teils nachdenklichen Balladen verzauberte er das immer noch treue Publikum.

 

Grace Jones lässt ihre Hüften kreisen

Schlank und rank wie früher präsentierte sich die inzwischen 64-jährige Grace Jones. Im Stringbody zeigte sie bei "Slave tot he Rhythm", dass sie den Hula-Hoop-Reifen immer noch gekonnt um ihre Hüften kreisen lassen kann. Und auch der ständige Kostümwechsel bleibt das Markenzeichen der einzigartigen Grace Jones. Fünf Mal wechselte sie ihr Outfit- vom Löwenkostüm bis zum Bodystring.

 

Grace Jones krönte einen der Höhepunkte des Festivals, die "Freak Out"-Tanzparty, die von 20 Uhr bis vier Uhr früh dauerte. Musiker und Produzent Nile Rodgers moderierte den Abend und heizte den Saal mit Discohits an. Dabei holte er sich unterstützung von großen Namen – u-a. Alison Moyet, die ein bisschen mit ihrer Stimme kämpfte, Cerrone und La Roux-Sängerin Elly Jackson, die bei ihrem größten Hit "Bulletproof" ein wenig den Text vergass.

 

Disco-Nacht bis ins Morgengrauen

Einen abrupten Stimmungswechsel gab es nach Mitternacht, als die DJs Mark Ronson und Felix da Housecat auf die Bühne kamen und hinter einem Tisch House- und Elektro-Sounds aufdrehten. Erst als der aus Montreux stammende schweizerische "YeYe"-Sänger Patrick Juvet auftauchte und "Où sont les femmes?" ("Wo sind die Frauen?") trällerte, kam wieder das Disco-Feeling zurück. Schade nur, dass Grace Jones zum Abschluss der Tanznacht erst um halb vier Uhr früh auf die Bühne durfte, und nur noch gut 500 Zuschauer sie verfolgten.

 

Herbert Grönemeyer nutzte das Festival, um sein neues Album "Schiffsverkehr" zu präsentieren – passend zum Ambiente des Genfer Sees. Er garnierte seinen Auftritt mit zahlreichen Klassikern "Alkohol", "Männer", "Flugzeuge im Bauch" usw. Zu jedem Song gab er gleich noch eine französische Kurz-Interpration.

 

Ein bisschen Jazz auf dem Jazz-Festival

Jazz spielte auf dem Jazz-Festival nur eine untergeordnete Rolle. Grob geschätzt hatte vielleicht jedes dritte Konzert etwas mit Jazz zu tun. So traten die bekannten Altstars Chic Corea, Paco de Lucia, Herbie Hancock und Trombone Shorty auf. Einen besonderen Coup landeten die Festivalmacher mit dem "New Orleans"-Abend. Gleich drei große Künstler – Hugh Laurie, Dr. John & The Lower 111 sowie Trombone Shorty – spielten auf.

 

Jazzfestival ohne Jazz? Das kann sich Festivalchef Nobs natürlich nicht vorstellen. Aber ihm geht es nicht um die Frage eher Jazz oder Pop, sondern nur um gute oder schlechte Musik.

 

"Einer der sympathischsten Festivals"

Und diesmal scheint abermals sein gewagtes Konzept des "Nobs-Salat" (Mischung verschiedener Stile) wieder aufgegangen zu sein. "Es war einer der sympathischsten Festivals, die ich erlebt habe", sagte er bei der Bilanz des zweiwöchigen Festivals.

 

Allerdings scheint das Festival inzwischen seinen Zenit überschritten zu haben. Überraschend viele Konzerte waren dieses Jahr nicht ausverkauft. Insgesamt kamen 10.000 Besucher weniger. Nicht schlimm, sagen die Veranstalter und geben dem wechselhaften Wetter die Schuld.

 

Irgendwie scheint der Spagat zwischen Volksfest und elitärer Konzertabende, zwischen Musik für Auserwählte und Party für alle immer schwerer zu funktionieren. Nobs überlegt sich nun, ob er eine zweite Konzertkategorie einführt, die statt 80 Franken nur noch 25 bis 50 Franken kosten soll. Man darf gespannt sein, was der 76-Jährige noch ausdenkt und wie er es nochmals schafft, das Festival zu neuem Leben zu erwecken.

 

 

Info:

Das Montreux Jazz Festival wurde 1967 von Claude Nobs gegründet. Es findet alljährlich im Juli statt und versammelt Musik-Größen aus Jazz, Pop, Rock, und anderen Musikrichtungen am Genfer See. Neben den kostenpflichtigen Konzerte finden open-air auch 250 Gratis-Konzerte statt.

 

Internet:

http://www.montreuxjazzfestival.com/2012/