Serie: Frau EMMA und die Dolomiten Höhenwanderung, Teil 3 /3
Thomas Adamczak
Niederdorf /Pustertal (Weltexpresso) - Der Höhenweg befindet sich im Naturpark Fanes- Sennes- Braies. Er führt über die Pässe Giau, Falzarego, Staulanza, durch das deutschsprachige Pustertal, das ladinische Fanesgebiet und südlich des Passo Falzarego durch ein Gebiet, in dem die italienische Sprache dominiert. Der Wanderer durchquert demnach drei Sprachgebiete und begegnet drei sich unterscheidenden Kulturen, was den Reiz der Fernwanderung erhöht.
Wenige Meter unterhalb der Schutzhütte Fodara Vedla steht eine kleine Kapelle, die der Bäckermeister und »Besitzer« Hans Mutschlechner aus St. Vigil 1946 als »Dank und Gelöbniserfüllung« über die »glückliche Heimkehr« seiner Söhne nach dem Zweiten Weltkrieg mit einigen Gleichgesinnten errichtete.
Dieser Bäckermeister wusste sehr wohl um die erbitterten Kämpfe im Ersten Weltkrieg an der unweit von hier gelegenen »Alpenfront«, die ungezählte Menschenopfer kostete. Davon zeugen etliche zu besichtigende Schützengräben und Stollen, die tief in den Berg hineingetrieben wurden.
Zwischen dieser Kapelle, die an die beiden Weltkriegskatastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts erinnert, und der Schutzhütte Fodara Vedla informiert eine bebilderte Tafel über die Tierwelt der alten der Betrachter kann sich mit Bergmolch (Alpenmolch), Schneehase, Grasfrosch, Alpendohle, Bergeidechse, Alpenbraunelle und anderen vertraut machen, nachdem er in der Kapelle daran erinnert wurde, dass diese landschaftlich begnadeter Gegend der Dolomiten als Kriegsschauplatz für mitleidloses Menschenschlachten diente.
Das Wandern, zumal das Bergwandern, lockert unsere Empfindungen, lädt dazu ein, Gedanken zuzulassen. Angesichts der Fülle der Eindrücke in der einzigartigen Bergwelt der Dolomiten bleibt dem Wanderer kaum etwas übrig, als sich zu besinnen. Die Berge mahnen den Besucher zu Demut, Bescheidenheit und Geduld, wenn er ihnen und dem, was sie zu erzählen haben, zuhört.
Wandern in einer solchen Umgebung ist Arznei gegen Ängstlichkeit, Bequemlichkeit und Lebensüberdruss. Der Mensch im Angesicht dieser wuchtigen Bergwelt: nicht mehr als ein Sternenstaubkörnchen! Eine Fernwanderung in den Dolomiten erfordert wie eigentlich jede längere Wanderung, initiativ zu werden. Eine solche Initiative ist die Voraussetzung dafür, die innere Fundgrube neu zu entdecken. Das Bergwandern zwingt zur Langsamkeit, und diese Langsamkeit geht einher mit einer Einstellungsänderung, die ich als Offenheit für Eindrücke, Empfindungen, unterschiedliche Art von Begegnungen, völlig neue Gedanken charakterisieren möchte.
Jean-Jacques Rousseau beschreibt die Erfahrungen bei vergleichbaren Wanderungen: »Nie wieder habe ich so viel nachgedacht«, nie sei er sich seiner selbst so bewusst gewesen wie bei den Reisen, die er zu Fuß unternahm.
Kierkegaard notiert, er habe sich seine besten Gedanken angelaufen und schwere Gedanken sei er beim Wandern losgeworden. Das Gehen in den Bergen erzwingt wegen der körperlichen Anstrengung das Für-sich-Gehen, auch wenn andere Wanderer, die die gleiche Tour unternehmen, in Sichtweite sind. Umso wichtiger können dann Begegnungen werden, wenn man ein Stück weit nebeneinander geht, weil es die Wegführung zulässt, oder wenn gemeinsam eine Rast eingelegt wird.
Ich war auf dieser Fernwanderung mit vier anderen Personen unterwegs, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, und zwar mit einem Ehepaar und Mutter und Tochter, die ich vorher überhaupt nicht kannte. Jeder von uns ging längere Passagen allein, für sich sozusagen. Dann wieder gingen wir zu zweit oder in wechselnden Konstellationen, mal zu dritt oder viert oder in der ganzen Gruppe. Man kommt zwangsläufig ins Gespräch, wobei dies keineswegs, insofern passt der Begriff »zwangsläufig« nicht besonders, als Zwang empfunden wird. Wandern fördert auf unkomplizierte Art und Weise den Kontakt zwischen Menschen.
Man erfährt Geschichten aus dem Leben von Leuten, denen man auf so einer Wanderung begegnet, die man unter anderen Bedingungen kaum erfahren hätte.
Auf der dritten Etappe vom Passo Falzarego zum Passo Giau mahnte die Wegbeschreibung bei Bild acht und KM 6,3, die Abzweigung nach rechts zu nehmen und dem Weg Nr. 438 zu folgen, denn der andere Weg, Nr. 443, führte zu einem angeblich schwierigen Klettersteig. An dieser Abzweigung standen wir zu viert, und zwar einigermaßen ratlos. Drei tendierten dazu, der Empfehlung in der Broschüre der Bildbeschreibungen zu folgen. Die vierte Person wollte lieber Richtung Klettersteig weitergehen, weil der empfohlene Weg wegen Neuschnees nicht auszumachen war. Keinerlei Spuren im Schnee! Eine Entscheidung musste fallen. Nur welche? Was tun, wenn sich ein Konsens nicht leicht erzielen lässt?
So wichtig das Alleingehen immer wieder ist, so wichtig ist auch die Erfahrung der Solidarität in der Gruppe, nämlich die Erfahrung, Anteil am anderen zu nehmen, ihn innerhalb eines bestimmten Rahmens kennen- und verstehen zu lernen. Der amerikanische Landarzt und großartige Lyriker W. C. Williams schrieb: »Was die Leute zu sagen versuchen, was sie uns, unablässig und vergeblich zu verstehen geben wollen, ist das Gedicht, das sie in ihrem Leben zu verwirklichen trachten.«
Wenn wir uns und anderen gut zuhören, können wir etwas über das »Gedicht« erfahren, welches wir in unserem Leben zu verwirklichen trachten und vielleicht auch, was das Lebensthema, das Motto, im Leben von Menschen ist, denen wir begegnen.
Also lautet die Empfehlung am Ende dieses Berichts über eine Höhenwanderung in den Dolomiten: Ergreifen Sie die Initiative, entschließen Sie sich zu einer Wanderung. Warum nicht zu einer Wanderung in den Dolomiten! Versuchen Sie sich Ihr »Gedicht«, das Ihr Leben bestimmt, bewusst zu machen, und versuchen Sie darauf zu achten, welche Gedichte die Menschen, denen Sie das Glück haben, wirklich zu begegnen, gern verwirklichen möchten.
Fotos:
1: Fodara Vedla © Cora Bergmeier
2: Pause © Gundula Seifert-Hirth
3: Marmolata © Susanne Bergmeier
Info:
http://www.visitdolomites.com/en/parks/parco-naturale-fanes-senes-braies;
https://www.suedtirolerland.it/de/highlights/natur-und-landschaft/naturparks/fanes-sennes-prags/