
Klaus Jürgen Schmidt
Nienburg/Weser (Weltexpresso) – Arkutino war 1967 ein neues Ziel für phantasiereiche Bulgarien-Touristen aus der Bundesrepublik, die keine Lust mehr hatten auf Hotelburgen am Schwarzen Meer.Unsere Reisegruppe wurde per Bus vom Flughafen in Burgas zu dieser kleinen Siedlung an der Mündung des Ropotamo gekarrt.
Die Siedlung bestand aus einer Art hölzernen Parzellenhäuschen, neu gebaut in Reih und Glied. Man wusch selbst, hängte die Wäsche an Leinen zwischen den Hütten auf und speiste oberhalb des Strandes in einem halboffenen Restaurant, das hauptsächlich bulgarischen Arbeitern und Arbeiterinnen für Betriebsausflüge diente. Bei deren Feiern durften wir gerne mithalten.

Für eigene Ausflüge, etwa zum russischen Staatzirkus, der gerade in Burgas gastierte, nahm uns ein Bäuerlein auf seinem Pferdewagen mit, Taxis gab es nicht. Erkundungen im Wald und am Fluss fanden per pedes statt, oder eine Flussfischerfamilie lud zur Bootsfahrt ein – und zu gegrilltem Fisch nach erfolgreichem Fang. Wie haben wir uns verständigt? Ein Mädchen der Fischerfamilie hatte gerade begonnen, Spanisch zu lernen, ansonsten mit Mimik und Gebärden. Das kann zu Missverständnissen führen.
Bei einer Waldwanderung beobachten wir einen Mann, der drei Kameras aufgebaut hat und ganz still zwischen ihnen steht. Wir verharren ebenfalls. Die erste Bewegung: Ein Vogel flattert aus seinem Nest. Der Mann fotografiert Vögel. Und er zeigt uns in einem wissenschaftlichen Buch seine Fotos von Vögeln. Der Mann ist Ornithologe. Ich notiere mir den Namen und die Universität in Sofia. Dorthin schickte ich nach unserer Rückkehr ein paar Fotos, die ihn beim Fotografieren im Ropotamo-Wald zeigten. Der Alexander Prostov, den ich mir notiert hatte, schrieb dankend zurück. Aber er war nie im Ropotamo-Wald gewesen, meine Fotos zeigten den Mann, der für seine Bücher die Vogel-Bilder machte.
Es war eine Zeit, da Ausflüge von der Urlaubsbasis aus noch selber zu organisieren waren, etwa eine Flugreise von Burgas nach Sofia. Diesmal haben wir nahe der Hüttensiedlung ein Auto anhalten können, das etwas Militärisches hat. Vielleicht geht es deshalb in einem Stück durch zum Flughafen in Burgas. Der Flug mit einer regulären Propellermaschine ist ohne großen Umstand gebucht: Die beiden Deutschen erhalten einen Zettel, auf dem sind zwei Passagiernamen notiert: “mueller + 1 person”.
In Sofia machen wir abends die Bekanntschaft mit Mischo. Er gabelt uns in einem Studenten-Keller auf als wir gerade überlegt haben, ob wir den Rückflug verschieben. Hinter dem „Eisernen Vorhang“ den Plan verlassen?
Als Westler spontan eine Unterkunft für eine Nacht finden? Mischo bringt uns in eine Herberge, in der internationale Sportler nächtigen, und am nächsten Tag zeigt er uns sein Sofia.
Ein halbes Jahr später klingelt bei mir in der Redaktion das Telefon. Mischo hat sich gemerkt, dass ich beim Rundfunk arbeite. Jetzt ruft er an ... aus München ... und möchte was? ... Asyl in der BRD? Und dafür brauche er erst’mal ein bisschen Geld! Das kann ich auf das Konto eines Bekannten überweisen, der ihm bei den Münchener Behörden hilft. Tage später wird klar, ich habe – möglicherweise nicht als Einziger – nachträglich das Honorar für eine gelungene Stadtführung in Sofia bezahlt. Von Mischo haben wir jedenfalls nie mehr etwas gehört.
Bis Arkutino hat es auch ein deutsches Touristenpaar mit seinem Auto geschafft – und mit einer Straßenkarten-Sammlung. Diesen Atlas leihe ich mir aus, um nachzusehen, wie eine Reise von Arkutino zu noch entfernteren Zielen zu organisieren wäre. ... Istanbul wäre so eine Vorstellung. Ich weiß, dass türkische Gastarbeiter von Istanbul nach München (und umgekehrt) per Eisenbahn über Bulgarien reisen. Im Atlas sehe ich, dass Plovdiv der bulgarische Eisenbahnknotenpunkt ist, über den die Reise gehen müsste. Und ich notiere mir die Namen jener Orte, die wir abzuklappern hätten, um per Anhalter bis nach Plovdiv zu gelangen.

Und wie geht’s weiter nach Istanbul?
Die beiden schauen auf unser Gepäck: In einem Tragenetz zwei Handtücher, darin eingerollt eine Seifendose, eine Zahnpastatube und zwei Zahnbürsten. Sie lotsen uns an eine Ausfallstraße und wünschen uns Glück.
Das kommt, wiederum in weniger als einer halben Stunde, und hält als dunkelgelbe Mercedes-Limousine mit deutschem Kennzeichen. Ich hatte keine Liste vorbereitet für weitere Zwischenstationen, wir hatten ja in Plovdiv einen Zug besteigen wollen. „Wir zusammen nach Istanbul!“ sagt der Iraner und lässt uns hinten neben prall gefüllten Taschen Platz nehmen.
Ein Mercedes auf dem Weg von Deutschland über die Türkei in den Iran, und der Fahrer kennt sich aus, steuert ein bulgarisches Kohlebergbau-Städtchen an, wo abends Kumpel händchenhaltend über die Straßen flanieren und alles nach Rosen duftet. Und unser Iraner hat schon drei Schlafstellen in den Unterkünften des Bergbau-Kombinats organisiert. Offenbar hat er dort aber nicht ausreichend Schlaf bekommen, am folgenden Nachmittag muss er die Fahrt unterbrechen, um sich auf’s Ohr zu hauen. Das tut er auf einer Campingliege, die er so dicht an die vordere Stoßstange rückt, dass er bei jeder Bewegung seines Mercedes aufwachen würde. Mein Angebot, das Steuer zu übernehmen hatte er gleich abgelehnt.
Bei Dunkelheit erreichen wir die Grenze zwischen dem Warschauer Pakt-Mitglied Bulgarien und dem NATO-Mitglied Türkei! Und uns wird klar, weshalb die längere Schlafpause einzulegen war und wozu ein junges Paar aus der BRD als Mitreisende an dieser Grenze nützlich sein kann.
Im Dunkeln verlassen wir Bulgarien – ungefilzt. Beim Eintritt in die Türkei werden wir beide ungefragte Assistenten des Iraners. Mir werden Kartons aus dem Kofferraum zugeteilt, offensichtlich TV-Geräte, meine Partnerin erhält zwei Koffer. Als türkische Zollbeamte diese öffnen, wird sie purpurrot. Die Koffer sind vollgestopft mit schicksten Dessous!

Als wir ein paar Tage später herausgefunden haben, wann der Zug von Istanbul zurückfährt nach Plovdiv und zwei Fahrkarten erwerben wollen, folgt die Schwarzmarkt-Bescherung: Eisenbahn-Tickets gibt es gegen Lira nur mit einer Umtauschquittung von einer Bank.
Zurück in den Basar! Den Teppichvorhang wiederfinden! Lira tauschen gegen D-Mark?
Die Schwarzmarktbedürfnisse haben sich an diesem Tag offenbar dramatisch geändert: Auf einmal halten wir mehr D-Mark in den Händen als vor dem ersten Umtausch! Wir können mit dem Zug nach Plovdiv fahren.
1964 war diese Stadt bloss Zwischenstation für zwei Wanderer zwischen Kulturen.
2019 war Plovdiv ein Jahr lang Kulturhauptstadt für Europa.
Fotos: KJS
© Klaus Jürgen Schmidt
Info: http://www.radiobridge.net