Auf den Spuren des desertierten Großvaters von Dresden nach Schlüchtern (1)
Hanswerner Kruse
Dresden/Schlüchtern-Hohenzell(Weltexpresso) - Am 1. Mai wird sich Barbara Werner (64) auf den Weg von Dresden nach Schlüchtern-Hohenzell begeben. Das war der Fluchtweg, den Ihr Großvater Johann Schneider kurz vor Ende des 2. Weltkriegs, im Mai 1945 als Deserteur zu Fuß bewältigte. Dieser 19-tägige Marsch beschäftigt Werner schon sehr lange.
Jetzt will sie ihn nachvollziehen, möchte dieser Zeit nachspüren und herausfinden, was ihr Opa erlebte und ihn bewegte. Aus gesundheitlichen Gründen unternimmt die Frau aus Poppenhausen diese weltliche Pilgerreise mit dem Fahrrad. Warum sie diese Fahrt unternehmen wird, kann sie nicht sagen: „Darauf habe ich noch keine Antwort gefunden. Vielleicht habe ich sie, wenn ich ankomme.“
Der Schutzpolizist Schneider betreute ab 1944 in Dresden verletzungsbedingt die Waffenkammer einer Kompagnie der Wehrmacht. Zwei Jahre vorher flüchtete seine Frau Käthe mit dem gemeinsamen Sohn Siegfried - dem späteren Vater von Barbara Werner - aus Essen zu ihrer Schwester Luise nach Hohenzell. In das Haus von deren Großeltern. Denn im Ruhrgebiet, wurden die alliierten Luftangriffe, auch auf die Heimatstadt der Familie, immer bedrohlicher. Johann Schneider war hier Polizist und musste bereits 1940 nach Polen und Russland in den Krieg ziehen. Seitdem schickte er seiner „lieben kleinen Frau“ häufig erstaunlich poetische Liebesbriefe mit schönen Zeichnungen.
Im letzten romantischen Billett schrieb er ihr, drei Wochen vor seiner Flucht: „Ich denke an Dich und bleibe ich leben, komme ich zu Dir und mag es noch so weit sein. Ich muss Dich wiedersehen - weil ich Dich immer liebe.“ Wusste er da bereits, dass der Krieg verloren war und er bald desertieren würde? Am 1. Mai entfernte er sich jedenfalls mit einem Kameraden von der Truppe und erlebte strapaziöse filmreife Abenteuer, um den siegreichen Armeen der Russen und Amerikanern aus dem Weg zu gehen:
Kaum waren sie losgelaufen, wurden sie in der Nacht von russischen Einheiten überholt, sodass sie sich plötzlich hinter der feindlichen Linie befanden. Glücklicherweise fanden sie einen Bauern, der ihnen Hemden und Hosen gab, damit sie die Uniformen wegwerfen konnten. Im Schutz eines Waldes schlichen sie später an den Russen vorbei.
Weiter im Westen krabbelten Schneider und sein Begleiter einen Abhang hoch und gerieten auf einmal in den Eingangsbereich eines US-amerikanischen Gefangenenlagers. Abhauen ging nicht und so marschierten die beiden gradewegs durch das Lager und am anderen Ende wieder hinaus, wo die Wachen durch einige Frauen abgelenkt waren.
Doch die größte Bedrohung der Deserteure ging damals von den so genannten „Kettenhunden“ der Nazis aus. Diese Feldgendarmen jagten und ermordeten „Drückeberger“, teilweise sogar noch nach Deutschlands bedingungsloser Kapitulation. Einmal musste sich der Großvater, kurz vor einer Kontrolle durch ein Feldjäger-Kommando, unter Planen auf dem Fuhrwerk einiger Wehrmachtshelferinnen verstecken, die ihn mitgenommen hatten. Mit der Pistole in der Hand wollte er sich verteidigen, aber auf wundersame Weise wurde das Gefährt nicht durchsucht. Opa Schneider hatte nachträglich viel über seine Flucht niedergeschrieben, aber man erfährt nicht, was die Frauen unternommen hatten, um die „Kettenhunde“ abzulenken.
Nach 19 Tagen kam Schneider in Hohenzell an und schloss seine „liebe kleine Frau“ in die Arme. Die war eine energische Person, „eine ganz clevere“, wie Werner meint. Sofort besuchte sie die Kommandantur der Besatzungsmacht - und sorgte dafür, dass ihr Mann schnell entnazifiziert wurde und im Bergwinkel wieder als Polizist arbeiten konnte, bis zu seiner Pensionierung 1968. 1993 feierten Käthe und Johann ihre Diamantene Hochzeit.
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© Hanswerner Kruse
Barbara Werner erzählt von ihren Reise-Vorbereitungen
Fortsetzung folgt