Serie: Wandern in der Uckermark, Teil 2/4

 

Thomas Adamczak

 

Templin (Weltexpresso) - Die Vielfalt der Eindrücke und die Fülle der Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken könnte den Wanderer überfordern, wenn er nicht quasi automatisch zu selektieren und reduzieren vermöchte. Es ist eben nicht wie beim Blick in den Fernseher oder beim Surfen im Internet, dass die von den Bildern ausgehenden Reize überschwemmen, falls man nicht rechtzeitig den Aus-Knopf drückt.

 

Die in der Natur und von der Natur ausgehenden Angebote und Reize sind nicht penetrant darauf aus, mich zum Hingucken zu zwingen. Ob ich einen Grashalm ansehe oder beobachte, wie sich die Oberfläche eines Sees kräuselt, ist der Natur einerlei und sie lässt unaufgeregt zu, wenn ich sie eine gewisse Zeit ignoriere, um einen bestimmten Gedanken nachzuhängen.

 

An die fünfhundert Seen gibt es in der Uckermark. Ich erfahre auf einer der Informationstafeln, dass sich „gesunde Gewässer“ selbst reinigen, also ohne jegliches menschliche Zutun. Das Wasser des Platkowsees hat sogar trinkbares Wasser, steht da. Soll ich’s probieren? Ach, muss nicht sein, ich glaube es auch so. Erklärt wird auf einer dieser Schlaumachertafeln, wie man sich die „Urproduktion“ vorstellen kann. Sonnenkraft wandelt tote, anorganische Materie in Algen, Wasserpflanzen um, die die Nahrungsgrundlage für tierische Organismen darstellen.

 

Das Gehen“, schreibt David Le Breton in „Lob des Gehens“, ist eine endlose Bibliothek. Beim Gehen und umso mehr beim Wandern stößt man auf jede Menge potentieller Bücher. Und die Informationstafeln sind Zusammenfassungen solcher Bücher oder Auszüge daraus. Jeder Baum hat eine Geschichte, die aus seiner Sicht erzählt werden könnte. Und für einen See, ein Dorf, ein Haus, diese Ruine da am Wegesrand, Monumente, Schilder, Tiere des Waldes gilt das ebenso. Die gewöhnlichen wie die ungewöhnlichen Dinge entlang des Weges bieten unerschöpflichen Stoff für Romane.

 

Ein Beispiel: Nach Poratz, einem schmucken Örtchen unweit von Ringenwalde, stoße ich im Wald auf dem Weg nach Peetzig auf einen Gedenkstein.

 

HIER STARBEN NAMENLOS AM 27.4.1945 30 JUNGE SOLDATEN. WOFÜR?

EIN ÜBERLEBENDER 1990“

 

Der Flaneur in der Stadt sei Amateursoziologe, potentieller Romancier, Journalist, Politiker, Anekdotenjäger, meint Le Breton. Der denkt beim Gehen über das, was er sieht und über Gott und die Welt nach, nicht zuletzt auch über sich selbst. Ich bin überzeugt, dass dies für den Wanderer ebenso zutrifft. Die Inschrift auf dem Gedenkstein als Material für einen Journalisten, einen Romancier? Na klar doch!

 

Kurz danach eine Begegnung mit einem Hufschmied. Pferdekoppel. Mehrere Pferde. Eines wird gerade von der Koppel geholt. Der Hufschmied klemmt das Bein des Pferdes zwischen seine Beine. Er entfernt das Hufeisen, bearbeitet den Huf des Pferdes.

Wie oft so’n Huf beschlagen werde? – Mal gucken, ob es zum Gespräch kommt. -

Alle acht Wochen.“ - Meine Reaktion: Erstaunen. - Wie oft ich mir denn die Finger Nägel schneide? – Ich muss passen. - (Möchte wissen, wer auf so ohne Frage sofort die Antwort wüsste.) - „Einen Zentimeter wächst der Fingernagel durchschnittlich im Monat.“ –„Aha!“ –

Ich frage, wie lange die Ausbildung zum Hufschmied dauere? - Jetzt ist der Mann in seinem Element. Dreieinhalb Jahre auf direktem Weg, aber es gebe noch einen anderen, der dauere länger.

 

Wäre das Material für einen Roman? - Eher nicht, aber interessant ist es schon, nicht wahr? Wer wollte nicht schon immer mal mit einem Hufschmied reden?

Oder mit einem Fliesenleger!

 

Den treffe ich auf dem Damm unweit der Oder, als ich von Stolpe nach Schwedt unterwegs bin. Ich hatte eben den Rucksack abgesetzt. Kurze Pause. Er steigt von seinem Rad, geht auf mich zu, streckt mir die Hand entgegen. Händeschütteln unter Fremden. Er kommt aus Angermünde. Fährt ein- zweimal die Woche an die 40 km mit dem Fahrrad. Wie mir die Uckermark gefalle? Ich beginne von der Landschaft zu schwärmen, was es alles zu entdecken gebe, dass ich mich gar nicht satt sehen könne. Er: Beim Radfahren bekomme man kaum etwas von der Natur mit. Lenker fest umklammert, Blick nach vorn. Um zum geplanten Ziel zu kommen, müsse er sich sputen, wenn er zu einer bestimmten Zeit zurück sein wolle.

 

Vierzig Jahre Arbeit als Fliesenleger. „Oh je, die Gelenke, die Gelenke!“ Ständige Schmerzen. Radfahren gehe, meint er, laufen weniger. Nach 30 Kilometern ließen die Schmerzen nach, bei 35 Kilometern hörten sie auf und die letzten 5 km könne er genießen, schmerzfrei. Von der Gegend kriege er „nischt“ mit. Und dann der Vergleich mit früher: Vor der Wende habe man mit jedem, jeder unterwegs geredet. Das sei völlig normal gewesen. Manchmal habe man dann zusammen ein Bier getrunken. Das sei vorbei. Der Kapitalismus habe die Leute verändert. Den meisten hier gehe es beschissen, aber keiner gebe es zu. Keiner getraue sich zum Beispiel, über die Höhe seiner Rente zu sprechen. Das sei den Leuten peinlich. Die Westler lachten sich doch kaputt, wenn sie erführen, was einer wie er für ne Rente habe. Achthundert Euro Rente bekomme er. Das reiche nicht, um ab und an mal in die Kneipe zu gehen. Er wolle lieber nicht wissen, was ich für ´ne Rente hätte. Nein, das wolle er nicht wissen. Ich hatte gesagt, dass ich aus dem Rhein-Main-Gebiet komme. Ich erwähne eine mir gut bekannte Frau, die hundert Euro Rente bekommt. Selbstständig war sie, Dozentin in der Erwachsenenbildung. Er: Ja, die Frauen in der DDR hätten halt alle eine Arbeitsstelle gehabt und bekämen deswegen in der Regel eine einigermaßen akzeptable Rente.

 

Wir verabschieden uns. Ich zuckele weiter, habe noch etliche Kilometer zu schruppen. Er besteigt sein Rad. Ein kleines Gespräch.

 

Mir fällt mal wieder ein Zitat aus Le Bretons „Lob des Gehens“ ein. „Die Sprache führt die Trennung mit sich, die sie zu überwinden sucht, ohne dass es ihr jemals gelänge.“ Sprache ermöglicht Kontakt, sie stellt eine Verbindung, eine Beziehung her, aber letztlich macht sie die Trennung bewusst, da ist Le Breton zuzustimmen.

 

Schade! Ich hätte dem Fliesenleger zum Abschied die Hand hinstrecken sollen, statt ihm nur Tschüss zuzuwerfen. Fortsetzung folgt.

 

Foto:

Historische Altstadt Angermünde, Marktplatz

 

Info I:

 

Der Landkreis Uckermark wurde im Jahre 1993 aus den Altkreisen Angermünde, Prenzlau, Templin und der ehemaligen kreisfreien Stadt Schwedt/Oder gebildet. Erst nach 1990 entschieden sich die Einwohner/innen der Kreise Prenzlau und Templin für die Zugehörigkeit zum Bundesland Brandenburg. Fortsetzung Teil 3

 

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01. November bis 31. März: Mo bis Fr 9.00-16.00 Uhr

 

 

Info II:

Zitate in der Serie entstammen dem Buch vonDavid Le Breton, Lob des Gehens, Berlin 2015, Matthes & Seitz

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Das Buch wurde vom Verfasser dieses Artikels rezensiert in

 

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