Der Urwaldsteig am Edersee, Teil 2
Thomas Adamczak
Wiesbaden (Weltexpresso) - Im Nationalpark Kellerwald-Edersee soll unter dem Motto „Natur Natur sein lassen“ Wildnis von morgen entstehen. Zu dieser Zielsetzung passt der „Warzenbeißer Kunstweg" in hervorragender Weise. Der Warzenbeißer, eine für den Laien irritierende Bezeichnung, ist übrigens eine Langfühlerschrecke, die zu den Kostbarkeiten des Nationalparks gehört, weil sie sehr selten vorkommt.
Der Warzenbeißer hat lange Fühler und könnte sich, das ist wohl die Idee hinter der Namensgebung, dank seiner Sprungfüße und Flügel mühelos von einem Objekt zum anderen bewegen und so, wenn er nur wollte, den Besucher entlang der Stationen der „Land-Art-Objekte“ geleiten.
Ich traf auf diesem Kunstweg am dritten Tag meiner Wanderung auf dem Urwaldsteig, und er animierte mich zu einer bewussteren Wahrnehmung der Phänomene in der Natur. Der Urwaldsteig ist in drei Tagen locker zu bewältigen. In meinem Hotel in Waldeck („Waldhotel Wiesemann“), von dem aus ich startete, wird der Service angeboten, dass man nachmittags von da abgeholt wird, bis wohin man es auf der Tagestour geschafft hat, und am nächsten Morgen wird man mit dem Auto an genau diesem Punkt wieder abgesetzt und kann von dort aus die Wanderung fortsetzen. Auf der Hin- und der Rückfahrt bekam ich vom Fahrer, er ist gleichzeitig Koch und Chef des Hotels, eine Fülle von Informationen zum Edersee. Dass der Ort Bringhausen samt Kirche vor dem Bau der Edertalsperre (um das Jahr 1906) abgebaut und weiter oben wieder aufgebaut wurde, wie hoch der Wasserstand des Edersees in etwa zu verschiedenen Jahreszeiten ist, welche Fischarten (Rotauge, Zander, Barsch, Hecht, Karpfen, Aal) in welchen Abschnitten des Edersees geangelt werden können.
Ein kleines Abenteuer möchte ich zum Abschluss der Kunstwanderung erzählen. Es war oberhalb vom Nationalparkzentrum Kellerwald. Auf dem Teilstück zum Parkplatz Hagenstein und anschließend zur Himmelsbreite, wo Wegweiser die Fortsetzung des Urwaldsteigs Richtung Ase-Süd anzeigen. Keine Ahnung, ob ich kurzzeitig vom Urwaldsteig abgekommen war. Manchmal gibt es größere Abstände zwischen den einzelnen Markierungen, sodass man schon mal vom eigentlichen Weg abkommen kann. Auf alle Fälle sollte mein Weg, auf dem ich mich befand, zum Hagenstein (37 4 m) führen, und über diesen führt auch der Urwaldsteig, so dass ich nicht beunruhigt war. Zu Beginn des Weges wies eine Informationstafel darauf hin, auf diesem Teilstück seien Forstarbeiten tabu, hier solle die Natur sich ohne jeglichen Eingriff des Menschen entwickeln können. Demnach kann auf Dauer etwas entstehen, was einem „Urwald“ ähnelt. Ansonsten ist der Begriff „Urwaldsteig“, wiewohl attraktiv durch all die Konnotationen, die er auslöst, ziemlich hochgegriffen, denn die Wege sind ja gepflegt, der Wegverlauf ist gut kenntlich, und in einem Urwald sähe es in dieser Hinsicht ein wenig anders aus. Doch auf dem Teilstück, auf dem ich mich befand, soll Urwald ansatzweise erlebbar sein.
Totholz wird nicht beseitigt. Umgestürzte Bäume bleiben liegen, Äste, die herabfallen, gleichfalls. Auf dem Schild wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es auf diesem Weg beschwerlich und gefährlich werden könne. Bei starkem Wind, gar Sturm solle man keinesfalls diesen Weg begehen. Ich fing gerade an, mich in der Fantasie mit der Frage zu beschäftigen, was der Wanderer bei einem unerwarteten Auftreten eines Sturms unternehmen könne, da wurde es für mich durch kreuz und quer über den Weg liegende Bäume, Äste, Gestrüpp derartig mühsam, dass von Wandern keine Rede mehr sein konnte. Es begann eine abenteuerliche Kletterei, die mir zunehmend ungemütlich vorkam.
Also schaue ich nach Möglichkeiten, all diesen im Weg liegenden Hindernissen auszuweichen. Dadurch muss ich vom Weg abgekommen sein, was mich zunächst nicht weiter störte, weil es kurzzeitig nicht mehr ganz so anstrengend war, das Gehen, und ich die Hoffnung hatte, über kurz oder lang irgendwie auf den Weg zurückzufinden. Pustekuchen! Der Wanderweg blieb unauffindbar. Plötzlich ohrenbetäubendes Krachen. Ach du liebe Güte! Ein Baum war zusammengekracht. Es war doch aber gar kein starker Wind! Oder? Ängstlich guckte ich nach oben, musterte die Bäume, die Baumwipfel. Bogen die sich? Ist es denn möglich, dass diese Riesenbäume bei solchen Verhältnissen plötzlich zusammenbrechen? Dies schreibend puste ich einiges an Luft aus der Lunge. Angst? Ein Gefühl wachsender Unsicherheit auf alle Fälle. Eine heikle Situation. Wie auf den Weg, einen einigermaßen sicheren Weg zurückfinden?
Na ja, es war dann doch alles halb so schlimm. Plötzlich tauchte ein Waldarbeiter auf. Der hatte einen Baum gefällt. Kurzes Gespräch. Er zeigte mir den Weg zur „Himmelsbreite“. Konnte ich in dem Moment gebrauchen, diese Breite des Himmels.
Die intensiven Gefühle sind es, die dem menschlichen Gedächtnis nachhelfen.
Foto: „Kommen und Gehen“, Glasziegel, © Yusuke Sasaki„Kommen und Gehen“
Info:
www.urwaldsteig-edersee.de – ein erlebnispfad – ein Pfad der Sinne – eine Oase der Stille – herrliche Aussichten – faszinierende Eindrücke
Tel. 05623 99980 34513 Waldeck/Edersee
www.naturpark-kellerwald-edersee.de/de/kellerwaldsteig/Start
Die Hauptroute des Kellerwalsteigs ist 156 km lang. Es gibt aber zusätzlich eine Vielzahl von weiteren Wanderwegen im Kellerwald.
Tel. 05621 969450
Laustraße 8, 34537 Bald Wildungen
https://www.youtube.com/watch?v=bvvXzo4DTU0
Warzenbeißer-Kunstweg im Nationalpark Kellerwald-Edersee: Zum 10-jährigen Jubiläum des Nationalparks