Die Entdeckung eines Tals: Das Ultental in Südtirol, Teil 1/10

 

Thomas Adamczak

 

Wiesbaden (Weltexpresso) - Die Menschen sind die Geschichten, die sie erzählen. Geschichten können ganz unterschiedlich erzählt werden. Diese beginnt mit Sepp, der in St. Pankraz im Ultental im Altersheim lebt und sich dort, wie er zu verstehen gibt, pudelwohl fühlt. Sepp hat sein ganzes Leben lang hart gearbeitet. Ein schweres, an Entbehrungen reiches Leben liegt hinter ihm, und jetzt kann er es genießen, versorgt zu werden, nicht mehr schuften zu müssen.

 

Sepp kommt aus dem Kirchbachtal im Ultental. Dort liegt der Bauernhof seiner Eltern, dort hat er seine Kindheit, seine Jugend und den größten Teil seines Lebens verbracht. Neben der Arbeit auf dem Bauernhof hat er von früh an als Waldarbeiter hinzuverdient. Das Kirchbachtal ist ein wunderschönes Tal, aber es hat den Nachteil, dass viele der Bauernhöfe am Bachlauf im Spätherbst und Winter kaum von der Sonne erreicht werden. Ein paar Monate im Jahr lässt sich’s auf diesen Höfen gut aushalten, die Sonne scheint mehrere Stunden am Tag, aber in den übrigen Monaten ist es oft düster und ungemütlich kühl im Vergleich zum Bergrücken oberhalb vom Tal. Dort oben liegt auf einer Rasenfläche mitten im Wald das Kirchlein St. Helena mit herrlichster Aussicht in das Ultental und auf die umliegenden Berge.

 

Neben der Kirche St. Helena befindet sich das sogenannte Vidum, welches ehemals als Pfarrhaus diente. Gegenüber diesem Vidum, übrigens ein prächtiger Holzbau in der für das Ultental typischen Weise, steht das ehemalige Schulhaus, in dem Sepp, um auf unsere Hauptperson zurückzukommen, wie alle Kinder aus dem Kirchbachtal und vom Mariolberg seine Schulzeit verbrachte.

 

Vor Schulbeginn Gottesdienst in der Kirche St. Helena, dann Schule und danach wieder nach unten zum Bauernhof, dem Bachmannhof im Kirchbachtal. Etwa hundertfünfzig Höhenmeter morgens, und mittags die gleiche Strecke zurück, oft vom düsteren Talgrund nach oben zum Kirchplatz, der bei entsprechender Wetterverhältnissen in hellem Sonnenschein liegt. Ob der Wunsch schon als Kind in Sepp erwachte oder später im jungen Mann oder noch später ist nicht bekannt, bekannt aber ist im ganzen Tal, dass er diesen Wunsch hatte und ihn mit außerordentlicher Konsequenz umgesetzt hat: ein Platz oben in unmittelbarer Nähe der Kirche, ein Platz an der Sonne. Und dort ein kleines Gasthaus, ein Gasthaus mit wenigen Zimmern, ein Haus für Gäste und für ihn, den Sepp, und seine Frau, die Paula, die Lehrerin in der Schule auf St. Helena, die er beim Bau des Gasthauses, des Helener Pichl, kennen lernen sollte. Bau des Hauses mit eigener Hände Arbeit, das sagt sich bzw. schreibt sich leicht. Was es in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts bedeutete, ein solches Gasthaus mit den einfachsten Hilfsmitteln und nur unterstützt von einigen Freunden und Bekannten in jahrelanger Arbeit zu erbauen, ist für uns heute kaum noch vorstellbar.

Versuchen wir es.

 

Als Sepp und Paula Wirtsleute im Helener Pichl waren, also in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, durfte man nicht mit dem PKW zum Berggasthof fahren. Für Paula, eine strenge Lehrerin, war es schlechterdings undenkbar, dass die idyllische Stille beim Gasthof Helener Pichl durch Motorenlärm gestört wurde. Erst ziemlich spät, als ihre gesundheitlichen Probleme zunahmen und sie deshalb froh war, wenn Sepp sie mit dem Auto hinunter nach St. Pankraz oder Sankt Walburg ins Ultental brachte, wurde sie milder und begann einzusehen, dass die fortschreitende Mobilität vor dem Helener Pichl nicht dauerhaft Halt machen würde.

 

Heute fährt man von einem einige 100 m entfernten Parkplatz im Wald über eine Forststraße, vorbei am Halsmannhof, der sich auf die Herstellung von köstlichem Ziegenkäse spezialisiert hat, am Ende ein kurzes steiles Stück hoch zur Kirche St. Helena. Wenn man zu Fuß kommt, was allemal ratsam ist, kann man die Stationen des Kreuzwegs, der bis zur Kirche führt, würdigen. Auf halber Höhe dieses letzten Anstiegs führt ein kleiner Pfad nach links zum Gasthaus. Wer mit dem Auto kommt, fährt vor der Kirche links ab in den Wald und trifft nach weniger als 200 m auf Parkmöglichkeiten mitten im Wald, etwas oberhalb des Hauses. Ein bisschen Herumrangieren ist erforderlich. Dann steht der Wagen auf mit allerlei Wurzelwerk versehenen festem Waldboden, neben Büschen und Bäumen. Doch nie sind viele Autos oben. Meist nicht mehr als eine knappe Handvoll, manchmal nur das Auto von Karl, dem Wirt des Helener Pichl, von dem später die Rede sein wird.

 

Der Wanderer, der dem kleinen Pfad unterhalb der Kirche nach links folgt, befindet sich, aus dem Waldstück heraustretend, auf einer Wiese direkt vor der Hauptseite des Berggasthofs. Zwei Tischgruppen mit Bänken in einigem Abstand voneinander stehen am Rand der Wiese, und direkt an der Hausfront ist eine langgezogene Bank zu sehen, davor Tische mit Bänken. Alles aus Holz natürlich, Zirbenholz mit seiner unnachahmlichen Färbung, dem unverwechselbaren Geruch. Eine erste Einladung, Platz zu nehmen. Der Blick wandert von der Wiese mit den gemütlich wirkenden Plätzen nach oben, verweilt bei den schlichten Balkons im ersten Stock, wandert über die verwitterten Holzbalken zu den Blumenkästen vor den Fenstern und an den Balkons, hoch zum zweiten Stock und dem hölzernen Giebel des Hauses. Ein Berggasthof, wie sie früher gebaut wurden, wie es immer weniger gibt, aber zum Glück doch noch diesen und jenen und hier also den „Helener Pichl“.

 

Schön, echt schön denkt der Wanderer und geht erwartungsvoll ein paar Schritte weiter, über die Wiese, an deren Ende eine wenige Meter lange Schräge mit Geländer nach oben zur Vorderseite des Hauses führt. Links neben dem Geländer ein üppig-buntes Gärtchen. Das können wir uns nachher in Ruhe anschauen, wenn wir dazu Zeit finden. Vor dem Eingang des Gasthauses weitere Sitzgruppen. Fünf Holztische mit vom Schreiner Andreas gefertigten Bänken. Alles Handarbeit. Falls man mit dem Auto kommt, nähert man sich dem Haus von hinten, und da erwartet den Besucher eine einladende Terrasse mit, die Leserin und der Leser ahnen es, weiteren Holztischen und Bänken. Jetzt erst, deswegen die umständliche Beschreibung, kann man sich begründet entscheiden, wo man außerhalb des Berggasthofs Platz nehmen möchte. Nichts gegen spontane Entscheidungen, aber es ist schon einer Überlegung wert, ob man in der prallen Sonne Platz nehmen möchte oder ein schattiges Plätzchen sucht, die Kulisse vor oder hinter dem Haus bevorzugt. Will ich lieber in den Wald hineinschauen oder auf den Naturnser Hochwart, die danebenliegende Dreihirtenspitze oder auf den Peilstein? Oder in das Ultental und zur gegenüberliegenden Talseite oder Richtung Kirche. Nahezu jeder Blick von jeder Seite des Hauses ist reizvoll und lohnend, und die Fülle der Plätze lädt dazu ein, mal aus dieser Perspektive oder jener den Blick schweifen und, was wichtig ist in unserer ruhelosen Zeit, ruhen zu lassen.

 

Der Helener Pichl ist trotz Aufhebung des Verbots von Paula ja nach wie vor nicht ganz leicht zu erreichen. Von Sankt Pankraz oder St. Walburg im Ultental muss man eine kurvige Höhenstraße fahren, die Abzweigung zur Mariolbergalm bzw. Sankt Helena und dem Helener Pichl nehmen und einer schmalen Strecke auf ruckeligem, engen Forstweg folgen. Wehe, wenn ein Auto entgegenkommt, dann führt am Rückwärtsfahren kein Weg vorbei. Nur wer fährt zurück? Immer der, welcher zuerst die Nerven verliert, meint Karl, der Wirt. Nicht jeder verspürt Lust auf solch ein Chicken-game.

 

Die Leute, die es bis zum Helener Pichl schaffen, bleiben in der Regel eine ganze Weile, das ist meine Erfahrung. Das liegt wohl daran, dass man nicht unkompliziert hinkommt, aber entscheidend dürfte sein, dass die Leute, wenn sie mal ihren Platz gefunden haben, liebend gern bleiben. An Sonn-und Feiertagen gar stundenlang. Die Einheimischen aus dem Ultental, von denen viele diesen Platz auf Sankt Helena schätzen, kommen mit Kind und Kegel, nehmen sich, wenn sie zu Mittag gespeist haben, einen der Liegestühle, die unterhalb vom Gasthof stehen, und machen es sich auf der Wiese bequem. Die Kinder spielen, erst einmal auf der Wiese, später im umliegenden Wald. Ein Besucher machte unlängst dem Wirt Karl den Vorschlag, hinter der Wiese einen Kinderspielplatz mit den üblichen Geräten einzurichten. Karl muss den Gast einigermaßen fassungslos angeschaut haben. Der Wald wimmele doch vor Spielangeboten. Die würden die Kinder von ganz alleine entdecken. So ist es. Natürlich ist es so.

 

Foto 1: Wegweiser zum Gasthof Helenerpichl, © Karl Laimer

Foto 2: Kirche St. Helena, © Ulla Wendorff

Foto 3: Frontansicht vom Gasthof Helenerpichl, © Karl Laimer

Foto 4: Seitenansicht des Gasthofs Helenerpichl, © Karl Laimer

 

 

INFO: Das Ultental und Deutschnonsberg in Südtirol

Gemeinde Ulten
St. Walburg, 39
I-39016 Ulten (BZ)
Tel. +39 0473 795 321
www.gemeinde.ulten.bz.it

Tourismusverein Ultental
Hauptstrasse, 104
I-39016 St. Walburg, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 795 387
www.ultental-deutschnonsberg.info

Schwemmalm - Ski- und Wandergebiet im Ultental

Schwemmalm
Dorf, 154
I-39016 St. Walburg/Ulten, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 795 390
www.schwemmalm.com

Ultner Talmuseum: St. Nikolaus, 107
I-39016 Ulten, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 790 374

Für zusätzliche Informationen zur Ferienregion Meraner Land können Sie den Tourismusverband Meraner Land besuchen:

Tourismusverband Meraner Land
Gampenstrasse, 95
I-39012 Meran, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 200 443
www.meranerland.com