Die Entdeckung eines Tals: Das Ultental in Südtirol, Teil 10/10

 

Thomas Adamczak

 

Wiesbaden (Weltexpresso) - Zum besseren Verständnis des Ergebnisses der Abstimmung bei der „Option“ sowie des Ergebnisses der Unterschriftensammlung nach 1945 und der jahrelangen Untergrundkämpfe gegen Vertreter des italienischen Staates ist ein Blick in die Vorgeschichte Südtirols hilfreich.

 

Im frühen Mittelalter ist Tirol ein Teil des Herzogtums Bayern, nach dem 14. Jahrhundert gehört es zum „Habsburgischen Erbland“ und bis 1806 zum „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“. Von 1804 bis 1867 ist Tirol ein Teil des Kaiserreichs Österreich mit einer kurzen Unterbrechung von 1805 bis 1814, in welcher Zeit es zum Königreich Bayern gehörte. Ab dem Jahr 1810 gehörten Teile von Südtirol zum Königreich Italien, und von 1867 bis 1918 war das gesamte Tirol (Nord-, Ost-, Südtirol) Bestandteil der Österreichisch-Ungarischen-Monarchie. Dieser knappe Rückblick soll genügen, um plausibel zu machen, dass in Südtirol die deutsche Sprache über Jahrhunderte ganz selbstverständlich gesprochen wurde und sich die dortigen Einwohner demzufolge zum deutschen Sprachraum gehörig fühlten und fühlen.

 

Bei der Annexion Südtirols im Jahre 1920 gehörte allerdings noch das italienischsprachige „Welschtirol“, die heutige Provinz Trentino, zum Gebiet Südtirols. Während die italienischsprachige Bevölkerung der Provinz Trient (ab 1948 heißt die Provinz „Trentino- Tiroler Etschland“) den Anschluss der Region an Italien bejaht haben dürfte, war sie für die deutschsprachige Bevölkerung eine herbe Enttäuschung. Diese wurde, so sehen es die meisten Südtiroler, zur Mitgliedschaft am Staat Italien gegen ihren Willen gezwungen.

 

Einen Staat kann man sich wie einen Verein oder einen Club vorstellen, der seinen Mitgliedern bestimmte Rechte gewährt und Pflichten abverlangt. Diesem „Verein“, um es noch einmal zu wiederholen, sind die Südtiroler aber nicht freiwillig beigetreten. Im Gruber-De-Gasperi- Abkommen wurde den Südtirolern eine gewisse Autonomie versprochen, zudem wurde Österreich zur „Schutzmacht“ der Südtiroler Bevölkerung erklärt. Die vereinbarten Rechte auf Autonomie wurden der Südtiroler Bevölkerung vom italienischen Staat sehr zögerlich, wenn überhaupt gewährt. Eine zusätzliche Verschärfung des daraus resultierenden Konflikts ergab sich dadurch, dass von der italienischen Regierung die Zuwanderung italienischer Arbeitsmigranten gefördert wurde.

 

Im „Zweiten Autonomiestatut“ von 1972 wurden Konsequenzen aus der mangelnden Umsetzung der Autonomierechte Südtirols gezogen, in Verhandlungen zwischen italienischen sowie österreichischen Regierungsvertretern und Repräsentanten der Provinz Südtirol. Erst zwanzig Jahre später erklärt die italienische Regierung, dass das „Südtirol Paket“, so wird das Zweite Autonomiestatut auch bezeichnend, verwirklicht sei. Jetzt erst, also im Jahr 1992, erfolgt die auf Verhandlungsweg erreichte „Streitbeilegungserklärung“ aller Beteiligten, ein in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzender Erfolg für die Südtiroler. Ab diesem Zeitpunkt wurde endlich der ethnische Proporz bei der Besetzung von Stellen in der öffentlichen Verwaltung und eine gerechtere Verteilung von Sozialwohnungen gewährleistet, d.h. die systematische oder gar planvolle Benachteiligung der deutschsprachigen Bevölkerungsteile wurde beendet. Mittlerweile gilt Südtirol als „Modellregion“ für die Autonomie von ethnischen Minderheiten. Die Einrichtung der „Europaregion - Südtirol -Trentino“ durch die Europäische Union soll das weitere Zusammenwachsen der gesamten Region befördern.

 

Im Vergleich zu den erbitterten Auseinandersetzungen im zwanzigsten Jahrhundert ist viel erreicht worden, ohne dass die im Zusammenhang mit diesem Konflikt geschlagenen Wunden völlig verheilt wären. Die Streitbeilegung ist zweifellos wichtig. Für einen Schritt hin zur Versöhnung wäre allerdings eine offizielle Entschuldigung des Staates Italien wünschenswert. Eine offizielle Entschuldigung für Benachteiligung, Diskriminierung und den Südtirolern abverlangte Zumutungen wie dem Verbot der deutschsprachigen Schulen unter Mussolini.

 

Italiener wie Südtiroler gehören zur italienischen Nation, sind Bürgerinnen und Bürger des italienischen Staates. Deutschsprachige Südtiroler fühlen sich allerdings in der überwiegenden Mehrzahl nicht primär als Italiener. Sie sehen sich als Südtiroler, die entgegen ihrem ausdrücklichen Willen zu einem Staat gehören, zu dem ihre Eltern und Großeltern ursprünglich nicht gehören wollten. Nach den beiden Weltkriegen des zwanzigsten Jahrhunderts sahen es die Entscheidungsträger der Siegermächte als vorteilhaft an, Südtirol an das italienische Staatsgebiet anzugliedern. Vermutlich war dafür ein wesentliches Motiv, die als Verursacher der beiden Weltkriege geltenden Länder, Deutsches Reich und Österreich-Ungarn, wenn nicht zu bestrafen, so doch territorial zu schwächen, dies allerdings auf Kosten des Selbstbestimmungsrechts der Südtiroler Bevölkerung, des Südtiroler Volkes.

 

Was kennzeichnet ein Volk? Ein Volk ist eine Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamer Herkunft, Sprache, Geschichte, Kultur und weitgehend gemeinsamen Wertvorstellungen sowie ähnlichen Vorstellungen von einem guten bzw. angemessenen Leben.

 

In Bozen gab es am 6. Oktober 2002 eine Volksbefragung. Vorausgegangen war der Beschluss des Gemeinderats von Bozen im November 2001, den „Siegesplatz“, auf dem sich das Siegesdenkmal aus der Ära Mussolini befindet, in „Friedensplatz“ umzubenennen. Die Mehrheit der über 60% italienischsprachigen Bevölkerung hat den symbolischen Charakter dieser Umbenennung bedauerlicherweise nicht sehen und demzufolge nicht bejahen wollen. 62 % der abgegebenen Stimmen plädierten für eine Rückbenennung in „Siegesplatz“ und wiesen damit die Chance einer Geste der Versöhnung zwischen Südtirolern und den sich als Italiener sehenden Einwohnern Bozens zurück.

 

War das ein Beleg dafür, dass die zwei „Völker“ noch nicht zu einem „Volk“ zusammengewachsen sind? Die Bozener sollten diese Abstimmung Jahr für Jahr wiederholen (müssen), bis endlich eine Mehrheit begreift, dass eine Einigung auf den Namen „Friedensplatz“ dem Zusammenleben förderlicher ist als ein besserwisserisches Bestehen auf einem zumindest frag-würdigen Sieg hier und einer Niederlage da, zumal das „Siegesdenkmal“ auf diesem Platz als typisches Beispiel der Herrschaftsarchitektur des italienischen Faschismus gelten muss. Vor jeder Abstimmung sollten alle Wahlberechtigten in der Wahlkabine das folgende Zitat lesen können:

Jeder ist an allem Schuld. Wenn jeder das wüsste, hätten wir das Paradies auf Erden.“ (F. Dostojewski)

 

 

Für den Erhalt und die Entwicklung einer stabilen Demokratie ist es wünschenswert, wenn nicht gar erforderlich, dass historische Wunden nicht zugekleistert werden. Historisches Unrecht darf nicht verdrängt, sondern die Auseinandersetzung damit sollte bejaht werden. In dem Buch „Fünf Geschichten, die die Welt verändern. Einladungen zu einer neuen Sicht der Welt.“ von J. Macy & N. Gahbler wird von einem „500-Jahre-Friedensplan“ in Siri Lanka berichtet. Über den dortigen Konflikt heißt es: „Die Saaten des gegenwärtigen Konflikts wurden vor fünfhundert Jahren gelegt. Es wird ebenso lange dauern, den Schaden wieder gut zu machen.“ (Seite 82) „Eine solche Perspektive“, schreibt Vera Kattermann, der ich den Literaturhinweis verdanke, in „Psyche“ (11/2015), „entspannt und fördert Bescheidenheit“.

 

 Ist es in Zeiten der Globalisierung, der Bemühungen, die europäische Einigung voranzutreiben, von erheblichen Wanderungsbewegungen noch zeitgemäß, der Frage der Zugehörigkeit zu einem Staat übermäßiges Gewicht beizumessen? Ist es nicht ziemlich unerheblich, ob ein deutschsprachiger Südtiroler einen italienischen Pass hat? Es wäre vermutlich gut, wenn die Südtiroler und viele andere das so sehen könnten. Doch solange die Erinnerungen an Katakomben-Schulen lebendig sind, der außerordentliche Druck, der auf den Südtirolern mit der Optionsentscheidung lastete, noch nicht genügend verarbeitet wurde, und die Haltung mancher italienischer Landsleute ihnen gegenüber gelegentlich den Verdacht aufkommen lässt, dass diese die Südtiroler nur als geduldete Mitglieder einer Volksgruppe ansehen, wirken wechselseitige Ressentiments fort.

 

Der Autor Theweleit („Männerphantasien“, „Das Lachen der Täter“) schreibt zu der Frage der Identität von Menschen, dass mehrere Identitäten zu mehr Kompetenz führen.

Die Südtiroler verfügen über eine Identität als Südtiroler. Diese Identität ergibt sich wie bei jedem Volk, das wurde schon angesprochen, aus der Herkunft, aus Erinnerungen an Kindheit und Jugend, einer gemeinsamen Geschichte, dem in Südtirol gesprochenen Dialekt, aus bestimmten Erlebnissen, Ereignissen und regionalen kulturellen Besonderheiten. Die Tatsache, dass die Südtiroler außer der deutschen Sprache die italienische Sprache beherrschen, bereichert sie. Auch wenn die Identität der Südtiroler als italienische Staatsbürger teilweise gebrochen sein mag, erweitert die Tatsache einer doppelten Identität die Spielräume einer Persönlichkeit. Ist das eine Erklärung für das bewundernswerte Selbstbewusstsein vieler Südtiroler? Mir kommt es so vor, wenn ich erlebe, wie die Südtiroler miteinander umgehen, auf Touristen aus Deutschland und anderen Ländern eingehen und mit typischen Italienern zurecht kommen, dass sie in souveräner Weise in verschiedene Rollen schlüpfen können.

 

Südtirol wird sich verändern, natürlich weiter verändern, wie es sich Jahrhunderte lang verändert hat. Zu wünschen ist den Einwohnern von Südtirol allerdings, dass möglichst vieles, was von den Gästen als typisch südtirolerisch geschätzt wird, erhalten bleibt, und dazu zählen unter anderem die besondere Atmosphäre auf St. Helena und im Helener Pichl, das faszinierende Ultental und Deutschnonsberg als „Grenzland“ zwischen Südtirol und dem Trentino.

 

Vielleicht wird ja die Frage, ob Südtirol weiterhin zu Italien gehört wie die Frage der „Staatsangehörigkeit“ in Europa irgendwann einmal ähnlich relevant sein wie die Frage, ob wir einen Capuccino oder Latte macciato bestelle und, hoffentlich doch, genießen.

 

 

Foto 1: Ultental, © Ulla Wendorff

Foto 2: „Hartungshausen“, © Ulla Wendorff

 

INFO: Ultental und Deutschnonsberg in Südtirol

 

Die Villa „Hartungshausen“ (Foto 2) liegt im Ultental zwischen St. Nikolaus und St. Gertrud. Der wegen seiner Heilmethoden berühmte Innsbrucker Arzt Dr. Christoph Hartung von Hartungen (1849 – 1917) ließ dieses Sanatorium zwischen 1903 und 1906 erbauen. Eine Tafel an der Frontseite des Hauses verweist u.a. auf Franz Kafka, Heinrich und Thomas Mann, Peter Rosegger und Rudolf Steiner, die hier zur Kur waren.

Gemeinde Ulten
St. Walburg, 39
I-39016 Ulten (BZ)
Tel. +39 0473 795 321
www.gemeinde.ulten.bz.it

Tourismusverein Ultental
Hauptstrasse, 104
I-39016 St. Walburg, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 795 387
www.ultental-deutschnonsberg.info

Schwemmalm - Ski- und Wandergebiet im Ultental

Schwemmalm
Dorf, 154
I-39016 St. Walburg/Ulten, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 795 390
www.schwemmalm.com

Ultner Talmuseum: St. Nikolaus, 107
I-39016 Ulten, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 790 374

Für zusätzliche Informationen zur Ferienregion Meraner Land können Sie den Tourismusverband Meraner Land besuchen:

Tourismusverband Meraner Land
Gampenstrasse, 95
I-39012 Meran, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 200 443
www.meranerland.com