Die Entdeckung eines Tals: Das Ultental in Südtirol, Teil 9/10
Thomas Adamczak
Wiesbaden (Weltexpresso) Südtirol geht es, hat man den Eindruck, insgesamt recht gut. Es zeigt dem Besucher einen gewissen Wohlstand. Einen mehr oder weniger bescheidenen Wohlstand. Es geht der Region Südtirol, für die der Tourismus ziemlich wichtig ist, noch besser, wenn möglichst viele Touristen kommen, wobei es ziemlich unerheblich ist, ob diese aus dem Süden des eigenen Landes oder von jenseits der Grenze am Brenner kommen.
Hauptsache, die Leute fühlen sich wohl, die Leute kommen wieder, weil sie Südtirol als Urlaubsgebiet schätzen.
Kann Südtirol vielleicht gar ein Vorbild für Europa, für Konfliktregionen der Welt sein? Man denke an die Konflikte zwischen der Ukraine und der russischsprachigen Ostukraine, zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland, die Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis, längst vergangene und teils vergessene Konflikte in und um das Elsass, von den Konflikten in Syrien und der arabischen Welt ganz zu schweigen.
Wenn es nur so einfach wäre!
Die Vertreter der Ethnien, verschiedener Religionen, die Repräsentanten der Staaten, die Vertreter von Provinzen, Regionen, Tälern, Siedlungen, Nachbarschaften und Hausgemeinschaften sitzen ja nicht, wiewohl das wünschenswert wäre, regelmäßig bei einem großen Mahl beieinander, lächeln, weil es ihnen schmeckt, prosten sich zu und wünschen sich guten Appetit, beste Gesundheit und ein gutes, sicheres, friedfertiges Leben.
Wenn Karl im Helener Pichl auf seine Zeit beim italienischen Militär zu sprechen kommt, dann vibriert seine Stimme. Man spürt förmlich, wie er die Faust in der Tasche ballt. Er hatte als Soldat, der aus Südtirol kommt, das Gefühl, dass einige der italienischen Offiziere ihn und andere Südtiroler Soldaten demütigen wollten. Sie wurden von oben herab behandelt, fühlten sich in ihrer Würde verletzt. Demütigungen werden nicht so leicht vergessen, in der Regel nicht verziehen.
Ein italienischer Gast, der im Helener Pichl zu Tisch saß, herrschte Karl an, Spiegeleier mit Speck würden mit Olivenöl, nicht mit Butter zubereitet. Um diese kühne Behauptung zu unterstreichen schob er den Teller mit besagtem Essen mit derbem Stoß über den Tisch, möglicherweise ohne zu bedenken, dass ein Teller auf einem Holztisch beträchtlich an Fahrt aufnehmen kann.
Meine Spiegeleier, mein Speck, diese meine Spiegeleier mit Speck. Und dazu Olivenöl?
Karl verschlug es die Sprache. Seine Ehre als Koch stand auf dem Spiel. In seinem Haus, seinem Gasthaus, ließ er sich nicht zurechtweisen, welche Zutaten er zu nehmen hat, er nicht!
Der Gast solle augenblicklich sein Gasthaus verlassen, brauche nie wieder zu kommen, solle sich seine Spiegeleier gefälligst selbst zubereiten.
Schade, dass es keinen Film von dieser Szene gibt. Hat Karl gestikuliert, dem Gast den Weg zur Tür gewiesen, ein oder zwei energische, deutliche Worte herausgepoltert?
Der italienische Gast hatte sofort begriffen, was auf dem Spiel stand. Er hätte sich erheben, den Helener Pichl auf Nimmerwiedersehen verlassen können, grußlos und ohne zu zahlen. Von dem hätte Karl keinen Cent genommen. Aber da lag ja dieser in gewisser Weise doch köstlich riechende Speck auf dem Teller, und das leuchtende Eigelb lachte ihn geradezu an. Er hatte erst einen einzigen Bissen versucht. Vielleicht schmeckt das Essen ja trotz der verwendeten Butter einigermaßen, sagte er sich. Appetit hatte er allemal. Die Karaffe mit Wein stand ebenfalls schon bereit. Wie es weiterging? Der Gast presste einige halbwegs nach Beschwichtigung klingende Worte heraus, griff nach der Gabel, ziemlich flink sogar, steckte einen Bissen in den Mund, kaute, blickte desinteressiert vor sich hin. Karl wendete sich vom Tisch ab, innerlich vermutlich noch vor Empörung bebend. Aber was hätte er tun sollen? Dem Gast den Teller wegreißen? Das wäre für ihn nie infrage gekommen. Der Gast bezahlte, nachdem er alles aufgefuttert hatte, wortlos. Karl steckte das Geld ein, ebenfalls wortlos.
Seitdem kommt der italienische Gast regelmäßig in den Helener Pichl, lässt es sich dort anscheinend schmecken. Über dieses Vorkommnis wurde zwischen beiden nie ein Wort gewechselt. Der Gast fühlt sich bei Karl sichtlich wohl. Freundschaft, wir wollen es nicht übertreiben, haben die beiden nicht geschlossen.
Solche oder ähnliche Episoden können die meisten Südtiroler auf Kommando erzählen.
Wenn man nach Hintergründen für die leicht zu weckenden Ressentiments zwischen deutsch-und italienischsprachigen Südtirolern oder Italienern sucht, wird man bald fündig.
Im Jahre 1992 gaben die politischen Repräsentanten Österreichs gegenüber den Vereinten Nationen auch im Namen der Südtiroler Volksvertretung eine sogenannte „Streitbeilegungserklärung“ ab.
Streit worüber? Streit weswegen?
Eine höchst komplizierte Geschichte, die hier unmöglich in Gänze wiedergegeben werden kann. Nur ein paar markante Ereignisse und Fakten seien in Erinnerung gerufen.
Von 1956 an und in den darauffolgenden Jahren gab es in Südtirol 361 Bombenanschläge. Diese Anschläge forderten, wiewohl sie nicht ausdrücklich auf Personen zielten, einundzwanzig Tote und siebenundfünfzig Verletzte.
1945 hatten die Einwohner Südtirols mit 155 000 Unterschriften für eine Wiedervereinigung mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründeten Österreich plädiert. Den Südtirolern wurde trotz dieser eindeutigen Willensbekundung keine Selbstbestimmung zugestanden, sondern Südtirol wurde Italien zugesprochen, so wie bereits im Vertrag von St. Germain nach dem Ersten Weltkrieg. Das Gruber-De-Gasperi-Abkommen (auch Pariser Abkommen genannt) von 1946 soll immerhin den Schutz der kulturellen Eigenart der autochthonen deutschsprachigen Bevölkerung der Region Trentino-Südtirol garantieren. Es stellt die Basis der heutigen Autonomie Südtirols dar.
Im Jahre 1920 wurde Südtirol gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerung vom Königreich Italien annektiert. Danach begann in den zwanziger Jahren, verbunden mit dem Namen des Nationalisten Ettore Tolomei, eine brachiale Italianisierungsphase in Südtirol. Obwohl bei der Volkszählung 1910 89 % der Südtiroler deutschsprachig waren und nur 2,9 % italienischsprachig, zudem 3,8 % ladinischer Herkunft und Sprache, wurde das Italienische als Amts- und Gerichtssprache durchgesetzt und wurden deutschsprachige Zeitungen mit Ausnahme einer faschistischen verboten. Eine Schulreform unter Mussolini schaffte 1923 gar die deutschsprachigen Schulen ab, wogegen sich die Südtiroler mit im Untergrund tätigen Schulen, den sogenannten Katakomben-Schulen, zur Wehr setzten.
Die Diskriminierung der Südtiroler unter der italienischen Diktatur erklärt bis zu einem gewissen Grad deren Begeisterung für den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938. Viele Südtiroler sahen damals nicht, dass Hitler mit seiner menschenverachtenden Politik seinem Kumpan Mussolini keineswegs nachstand. Mit dem Hitler-Mussolini-Abkommen hatten diese beiden Diktatoren einen geradezu diabolischen Plan ausgeheckt, der teilweise aufging. Die Einwohner Südtirols wurden bei der sogenannten „Option“ gefragt, ob sie Südtirol für immer verlassen oder im Land ihrer Mütter und Väter und damit im faschistischen Italien verbleiben wollten. Das Ergebnis dieses Referendums war für jemand, der Südtiroler Täler und Berge und die dort lebenden Menschen lieben und schätzen gelernt hat, verblüffend. 86 % von 200 000 befragten Südtirolern stimmten für diese Option mit der Aussicht, so das Propagandaversprechen, ins Elsass, nach Lothringen, nach Böhmen, in den Warthegau, in die Ukraine oder auf die Krim umzusiedeln. Versprochen wurde den sogenannten „Optanten“ das Blaue vom Himmel: fruchtbare, großflächige Ländereien und und und.
Diese Abstimmung war das Ergebnis eines gnadenlosen Propagandakrieges im Vorfeld, begleitet von vielen innerfamiliären und nachbarschaftlichen Auseinandersetzungen, die zum Teil bis heute nachwirken. Das Ergebnis dieser Abstimmung ist kaum nachzuvollziehen, wenn man Freude und Stolz der Südtiroler auf ihre Gebirgswelt kennengelernt hat. Es wird ansatzweise verständlich, wenn man die Zeit der Demütigungen, der Diskriminierung und Abwertung und der großen Armut weiter Bevölkerungsteile in den zwanziger und dreißiger Jahren sich vorzustellen vermag. Man muss berücksichtigen, dass die Südtiroler eine jahrelange Erfahrung der gewollten Benachteiligung als Minderheit in einer Diktatur sammeln mussten, und ein Ende dieser Diskriminierung unter Mussolini war ja nicht abzusehen. Stimmen die Zahlen, die von Wikipedia angegeben werden, sind bis 1943, dem Sturz Mussolinis, 75000 Optanten ins Deutsche Reich übergesiedelt, wo sie feststellen mussten, dass sie sich von unrealistischen Versprechungen hatten verführen lassen.
Foto 1: Blick auf den Laugen, © Ulla Wendorff
INFO: Ultental und Deutschnonsberg in Südtirol
Gemeinde Ulten
St. Walburg, 39
I-39016 Ulten (BZ)
Tel. +39 0473 795 321
www.gemeinde.ulten.bz.it
Tourismusverein Ultental
Hauptstrasse, 104
I-39016 St. Walburg, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 795 387
www.ultental-deutschnonsberg.info
Schwemmalm - Ski- und Wandergebiet im Ultental
Schwemmalm
Dorf, 154
I-39016 St. Walburg/Ulten, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 795 390
www.schwemmalm.com
Ultner Talmuseum: St. Nikolaus, 107
I-39016 Ulten, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 790 374
Für zusätzliche Informationen zur Ferienregion Meraner Land können Sie den Tourismusverband Meraner Land besuchen:
Tourismusverband Meraner Land
Gampenstrasse, 95
I-39012 Meran, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 200 443
www.meranerland.com