Serie: Unterwegs im Harz auf dem Hexen-Stieg, Teil 6
Thomas Adamczak
Quedlinburg (Weltexpresso) - Heine schenkte einer »schönen Dame« auf dem Brocken eine »wunderliche Blume«, die er den Tag davor angeblich »mit halsbrechender Gefahr von einer steilen Felswand gepflückt hatte«.
Die Mutter dieser Schönheit will den Namen der Blume wissen, »gleichsam als ob sie es unschicklich fände, wenn ihre Tochter eine fremde, unbekannte Blume vor die Brust stecke« - diesen »beneidenswerten Platz« erhielt die Blume nämlich.
Diese Blume gehöre »zur achten Klasse«, meint der Begleiter der Mutter und verstimmt Heine mit seiner Fliegenbeinzählermentalität, die dazu führt, »dass man auch Gottes liebe Blumen, ebenso wie uns, in Kasten geteilt hat … nach Äußerlichkeiten«.
Diese Textstelle fällt mir zu dem AfD-Mann ein. Einteilung der Menschen: westliche versus islamische Welt; Ost-West-Gegensatz; religiöse/ säkulare Menschen; Modernisten/Traditionalisten, Putin versus Conchita Wurst. Hier die Guten, dort die Bösen. Binäres Denken. Was für ein Blödsinn! Beispiele für nicht aussterben wollende klischeehafte Vereinfachungen.
Besonders vielen Leuten begegne ich nicht auf dem Hexen-Stieg. Ein paar Frauen sind allein unterwegs und einige Frauen zu zweit. Letztere räumen ein, dass sie sich nicht getrauen, eine solche Wanderung allein zu unternehmen. Ich frage sie, ob es sein könne, dass einige Frauen wegen des Namens dieser Fernwanderung alleine auf dem Hexen-Stieg unterwegs wären. Das wollen sie nicht ausschließen.
Eine dieser Frauen arbeitet in einem großen Kaufhaus in Göttingen. Sie und ihre Schwägerin, mit der sie die Wanderung unternimmt, treffe ich an drei Tagen hintereinander. In Schielke sind wir zufällig im gleichen Restaurant und wünschen uns, wir sitzen an benachbarten Tischen, guten Appetit. In Rübeland haben wir das gleiche Hotel, wechseln ein paar belanglose Worte über die Tagestour. Am dritten Abend, in Treseburg an der Bode, sitzen wir am gleichen Tisch zum Abendessen, kommen ins Gespräch. Die Arbeit als Verkäuferin sei heutzutage eine Qual. Es gebe nur ein Wort, das gelte: Umsatzsteigerung!
Der Umsatz müsse stimmen, zumindest gehalten, aber eigentlich ständig gesteigert werden. Und das bei dem heutigen Kaufverhalten der verwöhnten Konsumenten! Viele kämen doch nur, um sich von der Verkäuferin beraten zu lassen, guckten sich die Waren gründlich an und verschwänden wieder, ohne etwas kaufen zu wollen. Anschließend wird der Kram per Internet bestellt. Ende des Jahres sei Schluss mit dem Job, sagt sie entschieden. Länger könne sie es nicht aushalten. Der Druck sei fürchterlich.
Die Vorgesetzten kämen alle naselang mit großartigen Ideen, die ihnen auf Workshops verklickert würden. Wie die Kunden zum Kauf überredet werden könnten. Große Sprüche. Am liebsten würde die denen sagen: »Macht‘s doch selber! Zeigt mal, was ihr für Verkaufsgenies seid!«
Jeder, der Kritik übe, sagt diese Frau, solle sich erst mal überlegen, ob er diese Kritik selber hören und annehmen wolle, wenn er an der Stelle des Kritisierten stünde.
Auf dem Weg von Rübeland nach Treseburg, wo es zwei berühmte Tropfsteinhöhlen gibt, treffe ich im hübschen Örtchen Neuwerk auf einen älteren Mann, der vor seinem Haus einen Pfosten des Hoftors neu einbetoniert. Der junge Nachbar sei beim Rückwärtsparken drangestoßen. Der Mann lächelt. Verweist auf die eigene Jugendzeit. Er hätte auch einiges verbockt.
Ob ihn der »Übeltäter« mal zum Essen einladen werde, frage ich. Der Mann braucht nämlich ca. 5 Stunden, um den Schaden in Ordnung zu bringen. Da lächelt er wieder. Das sei doch nicht nötig!
Dann Stimmungsumschwung. Die jungen Leute würden aus dem Ort wegziehen. Bei der Rente sei er beschissen worden. Immer noch keine Angleichung der Renten zwischen Ost und West. Das hätten sie nicht für möglich gehalten.
Zwischen 2000 und 2015 ist die Bruttostandardrente des durchschnittlichen Arbeitnehmers im Westen um 17,5% und im Osten um 25,2 % gestiegen, lese ich ein paar Tage später. Aber die völlige Angleichung lässt noch eine (ganze) Weile auf sich warten, und das ist für die Betroffenen entscheidend.
Zu DDR-Zeiten sei das Leben im Dorf intakt gewesen, doch jetzt …. Der Mann will schimpfen. Schnell versuche ich das Gespräch wieder auf den Jungen aus der Nachbarschaft zu bringen, dem das Malheur mit dem Pfosten passiert ist. Da lächelt er wieder.
Soll ich dem Mann zum Abschied sagen, er möge sich zum Beispiel die verlassenen Dörfer in Piemont ansehen, das eine oder andere Dorf im deutschen Mittelgebirge oder dieser oder jener Gegend? Lasse es bleiben. Schade?
Auf der Tagestour nach Treseburg führt der Hexen-Stieg an einem Haus vorbei, vor dem ein aufwändig gestaltetes Schild an »Paulchen« erinnert. »Paulchen« wurde von einem »holländischen Geländewagen« überfahren! Auf dem Schild ein schmuckes Foto von »Paulchen«, dem geliebten Dackel.
Paar Kilometer weiter ein Garten mit Dutzenden von Schildern, dicht nebeneinander, mit allen möglichen Sprüchen.
Zum Beispiel: »Alle wollen zurück zur Natur - nur nicht zu Fuß.«
»Wer zuletzt lacht, hat es nicht eher begriffen.«
Ein paar Kilometer weiter ein Schild am Wegesrand: »Flechten, Pilze, Moose & irgendwann Bäume mit Wurzeln. Es wächst, bröselt, sprengt und rutscht ohne Unterlass.«
Mir fällt das Lied »Mein Freund, der Baum« ein. Entschließe mich kurzerhand, keinen der Bäume zu benachteiligen, alle zu meinen Freunden zu erklären: »Meine Freunde, die Bäume!« Fortsetzung folgt
Foto: Auf dem Brocken©Augustus Tours
Info: https://www.augustustours.de/de/wanderreisen/harz.html