Serie: Unterwegs im Harz auf dem Hexen-Stieg, Teil 7/10

Thomas Adamczak

Quedlinburg (Weltexpresso) - »Die Menschen müssen wieder lernen,  dass man die Natur einfach liegenlassen kann, entgegen allen vermeintlichen Erkenntnissen der deutschen Forstwirtschaft..« (Bundespräsident a. D. Roman Herzog)


Ein Schild auf dem ersten Tagesabschnitt informiert über »Wasserknechte«. Die Wasserknechte haben im 12./13. Jahrhundert, vor Einführung des Wasserrades, das in bis zu 20-30 m tiefe Schächte einsickernde Wasser mit Eimern schöpfen müssen. Über hundert »Wasserknechte« waren für die tieferen Schächte erforderlich. Pferde, steht  auf dieser Tafel, waren »zu teuer«. Ganz unironisch schießt mir in den Sinn: »Wie herrlich weit haben wir‘s gebracht!« Immerhin brauchen wir heute keine Wasserknechte mehr.

Wie wohl das Leben eines Wasserknechts ausgesehen hat?

Bei einer Köte (Köhlerhütte), einer aus Fichtenstangen und Borke gefertigten Hütte, finde ich folgenden Sinnspruch:
»Wanderer, ich schütze dich vor Wind und Wetter./ Vor bösen Bubenhänden, sei du mein Retter.«
Dieser Ort war ein Rastplatz für Eselstreiber, die Güter für die Bergleute im Oberharz transportierten.

Vom Gipfel des Brockens aus nehme ich die Brockenbahn nach Schielke. Heine schreibt über den Anstieg zum Brocken: »… auch Mephisto muss mit Mühe Atem holen, wenn er seinen Lieblingsberg ersteigt; es ist ein äußerst erschöpfender Weg und ich war froh, als ich endlich das lang ersehnte Brockenhaus zu Gesicht bekam.«

Heine beschreibt, wie sich die Landschaft beim Aufstieg verändert. Erst »empfing mich eine Waldung himmelhoher Tannen, für die ich in jeder Hinsicht Respekt habe. Diesen Bäumen ist nämlich das Wachsen nicht so ganz leicht gemacht worden, und sie haben es sich in der Jugend sauer werden lassen. Der Berg ist hier mit vielen großen Granitblöcken übersät, …«

»Je höher man den Berg hinaufsteigt, desto kürzer, zwerghafte werden die Tannen, sie scheinen immer mehr und mehr zusammenzuschrumpfen, bis nur Heidelbeer- und Rotbeersträuche und Bergkräuter übrig bleiben. Da wird es auch schon fühlbar kälter. Die wunderlichen Gruppen der Granitblöcke werden hier erst recht sichtbar; diese sind oft von erstaunlicher Größe. Das mögen wohl die Spielbälle sein, die sich die bösen Geister einander zuwerfen in der Walpurgisnacht, wenn hier die Hexen auf Besenstielen und Mistgabeln einhergeritten kommen und die abenteuerlich verruchte Lust beginnt, wie die glaubhafte Amme es erzählt,…«

Bei der Fahrt mit der Brockenbahn sind solche detaillierten Beobachtungen natürlich ausgeschlossen. Die Landschaft huscht in der Totalen vorbei, man sieht das große Ganze, kann, wenn man möchte, verblüfft feststellen, wie schnell all das vorbeifliegt, was man vorher Schritt für Schritt einigermaßen in Ruhe betrachten und in sich aufnehmen konnte. Eindrucksvolle Blicke vom Zugfenster aus, gewiss doch, aber letztlich kein Vergleich mit dem, was beim Wandern die Augen und übrigen Sinne zu tun bekommen.

Mir gegenüber sitzt eine Frau, die am gleichen Morgen mit ihrer Freundin mit der Bahn zum Brocken fahren wollte, jetzt allerdings allein wieder zurück fährt. Die Freundin musste nämlich auf der Hinfahrt aussteigen, konnte den Blick in die Tiefe nicht ertragen. Höhenangst! Auch der Vorschlag, die Augen zu schließen, brachte nichts. Oh je, Höhenangst: welch eine Einschränkung! Die Frau kommt auf ihre Spinnenphobie zu sprechen, damit ich ja nicht nur ihre Freundin bemitleide.

Wir sind so ins Gespräch vertieft, dass ich meine Lesehilfe in der Bahn liegen lasse, als ich in Schielke aussteige. Sie winkt mir vom Zugfenster aus, ich schreie, ob sie meine Lesehilfe sähe, die müsse dort liegen. Sie winkt weiter freundlich, kann mich wegen des Zuglärms nicht verstehen. Ob sie meine Aufgeregtheit kurz danach verstanden, die Lesehilfe vielleicht sogar als Souvenir behalten hat?

Mist, ärgerlich! Diese Lesehilfe brauche ich. Wie komme ich an Ersatz? In Schielke stoße ich auf das Touristenbüro. Wo der nächste Optiker sei. Schildere mein Missgeschick. In der näheren Umgebung keiner! Bedauern. Dann: »Einen Moment bitte!« Der Mann geht in den Nebenraum. Kurzes Gespräch, ohne dass ich davon was verstünde. Der Mann vom Tourismus-Office kommt zurück. Zieht eine Schublade heraus, legt drei Lesehilfen vor mich hin. Ich darf mir eine auswählen. Was ich schuldig sei? Nein, nein, sei schon o. k. Ich brauche nichts zahlen.

So schnell kann Ärger sich in Freude wandeln. Wenn‘s nur immer so schnell ginge.

Im Hotel in Schielke ist mein Gepäck noch nicht eingetroffen. Das passiert zum ersten und einzigen Mal. Es gab offensichtlich Kuddelmuddel bei denjenigen, die für den Gepäckstransfer zuständig sind. Mich kann‘s nicht erschüttern. Der Wirt des Hotels nimmt‘s auch locker. Ich gehe in den hübschen Kurpark von Schielke, probiere meine neue Lesehilfe aus, blinzele zwischendurch in die Sonne. Anruf vom Hotel. Das Gepäck ist angekommen. Zurück also. Duschen. Frische Klamotten. Schnell ein paar Notizen ins Reisebüchlein und dann treffe ich im Restaurant am Kurpark zufällig auf die beiden Wanderinnen, von denen weiter oben bereits die Rede war.

In Rübeland, wo eine Tagestour endet, sitze ich im Café und bestelle  Käsekuchen. Eine Gruppe von Frauen, sie gehören zu einer Kirchengemeinde, haben einen Ausflug gemacht. Die Frauen singen: »Kein schöner Land«. Die Bedienung begleitet sie mit der Gitarre, die sie blitzschnell hinter der Theke hervorholt, nachdem sie mir den Teller mit Käsekuchen hingestellt hat. Käsekuchen im Harz? Unbedingt zu empfehlen!

In Quedlinburg gibt es eine Bäckerei, die damit wirbt, achtzig verschiedene Käsekuchen im Angebot zu haben. Pfiffig, die Idee! Die Leute glauben es, stehen in Reihen vor der Kuchenausgabe, gehen mit ihren mit Käsekuchen gefüllten Tellern zu den vor der Bäckerei stehenden Tischen. Sämtliche Tische sind belegt. Direkt gegenüber ein Café, das ebenfalls Käsekuchen offeriert, wie ich einer aushängenden Tafel entnehmen kann. An der Eingangstür lehnen zwei Bedienungen, die auf Kunden warten. Die Tische vor diesem Café: leer!

Wieso, mögen sich die Angestellten in diesem Café fragen, ist uns nicht diese Verkaufsidee mit 60/70/80 verschiedenen Käsekuchen eingefallen? Apropos Werbung und Verkauf. Markenzeichen vom Hexen-Stieg ist die Hexe, die den Wanderer auf den Markierungszeichen während der gesamten Strecke begleitet. Markenzeichen vom Harz ist ebenfalls die Hexe. Hexen stehen in Vorgärten, den Gassen der Dörfer, hängen in Bäumen, zum Beispiel in Altenau, begegnen einem allüberall, zu hunderten in Souvenirläden, von 2,50€ bis wer weiß wie viel. Hexen, Hexen, nochmals Hexen, bis einem, was zu viel ist, ist  zu viel, der ganze Hexenrummel ein wenig auf die Nerven geht.

Heine schreibt, man könne sich nicht erwehren, sobald die obere Hälfte des Brockens erreicht sei, »an die ergötzlichen Blocksberggeschichten zu denken, und besonders an die große, mystische, deutsche Nationaltragödie vom Doktor Faust«. Ihm war sogar, »als ob der Pferdefuß neben mir hinaufkletterte und jemand humoristisch Atem schöpfte«.

Das scheint mir das Motto im Harz zu sein: Man will den Besuchern Gelegenheit geben, »humoristisch Atem« zu schöpfen. Die Hexen und Mephisto als lustige Figuren mit der Walpurgisnacht als Höhepunkt. Alles zusammen ein Heidenspaß. Undzählig die Plakate, die auf alle möglichen Events im Zusammenhang mit der Walpurgisnacht hinweisen, nachmittags für Kinder, später für die Familie und nachts für sämtliche »Möchtegernhexen«.
Die von Heine geschnupperte „verruchte Lust“ scheint, wenigstens tagsüber,  in den Hintergrund zu rücken.
Im sehenswerten Brockenmuseum wird auf etlichen Informationstafeln über »Hexenmythos und Hexenkult« informiert, ein Gegengewicht zur inflationär anmutenden Hexenmanie im Harz und drum herum.

Im Mittelalter war die Hexenjagd weiß Gott kein Spaß.

Im Brockenmuseum wird knapp und auf den ersten Blick schlüssig erscheinend über »Hexenmythen und Hexenverfolgung« informiert. Dass die Hexe im Volksaberglauben »eine geheimnisvolle zauberkundige Frau« sei, Kirche und Obrigkeit die Hexe als »wollüstige Frau« galt und somit Sinnbild »verdrängter Sexualität« war. Der Klerus fürchtete die »wissende und heilkundige Kräuterfrau« und die Wiederbelebung »heidnischer Kulte«.

Heute noch zeugen Begriffe wie Hexenschuss, Hexenbesen und Hexenkunst von dem mittelalterlichen Hexenwahn. In Deutschland währte dieser Wahn von etwa 1350 bis Ende des siebzehnten Jahrhunderts.

In und um Wernigerode wurden zwischen 1521 und 1638 26 Frauen und zwei Männer wegen Hexerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt, nachdem sie unter Folter gestanden hatten, was man von ihnen hören wollte. Anna Behringer aus Nordhausen, eine der an den Pranger gestellten »Hexen«, gestand am 18. April 1537, »sie sei … zur Walpurgisnacht auf dem Brocken gewesen und ihr Buhle habe sie auf einem weißen Ziegenbock…durch die Lüfte geführt.«

Als Hexen wurden den Informationstafeln des Museums zufolge besonders Frauen verunglimpft, die über Kenntnisse in Naturheilkunde und Geburtshilfe verfügten. Hexen galten in dieser Zeit als Dienerinnen des Teufels. Sie wurden für Missernten, Krankheiten, Unwetterkatastrophen verantwortlich gemacht. Dass der Brocken in besonderer Weise die Fantasie der Menschen anregte, wird auf dessen »unwirtliche und unzugängliche« Lage zurückgeführt. Der Brocken ist nämlich mehr als dreihundert Tage des Jahres in Nebel gehüllt, was sich die Bewohner der Umgebung nicht erklären konnten. Deswegen wurde diese Region im Volksaberglauben in Verbindung mit Hexen und Geistern gebracht. Fortsetzung folgt

Foto: Hexensabbat©Brockenmuseum

Info: https://www.augustustours.de/de/wanderreisen/harz.html