Jan justitiaSerie: „Ohne Verschulden?“ Alles richtig gemacht und trotzdem haften? Wer will das verstehen? Wer soll das versichern?, Teil 2/4

Jan-Philip Utech

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Im Strafrecht herrscht der Grundsatz "nulla poena sine culpa" = Keine Strafe ohne Schuld. Dieser in der Verfassung verankerte strafrechtliche Schuldgrundsatz besagt insbesondere, dass jede Strafe ein subjektiv vorwerfbares Verhalten voraussetzt.

Eine vorsätzliche Tat, ist in aller Regel subjektiv vorwerfbar, da erwartet werden darf, dass eine erwachsene Person in der Lage ist, diese zu unterlassen. Nur ausnahmsweise ist auch ein vorsätzliches Verhalten nicht subjektiv vorwerfbar. Einige menschliche Ausnahmensituationen berücksichtigt das Strafgesetzbuch in § 20 StGB. Wenn bei dem Täter zur Tatzeit etwa eine krankhafte seelische Störung (z.B. Alkoholintoxikationspsychose = Volltrunkenheit) oder eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung (z.B. Erschöpfung, Unfallschock oder Hypnose) vorliegt, die dazu führt, dass er nicht fähig war, das Unrecht der Tat einzusehen bzw. entsprechend seiner Einsicht zu handeln, handelt ohne Schuld und damit ohne subjektiven Schuldvorwurf.

Auch bei fahrlässigem Verhalten berücksichtigt das Gesetz menschliche Schwächen. In strafbarer Weise fahrlässig handelt nur, wer in der Lage war, nach Maßgabe der eigenen individuellen Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten sorgfältiger zu handeln. Persönliche Eigenheiten, die zur Verneinung der subjektiven Fahrlässigkeit führen können, sind insbesondere Intelligenzmängel, Gedächtnisschwächen, Wissenslücken, Erfahrungsmängel, Altersabbau, plötzliche Leistungsabbrüche, Schrecken oder auch Verwirrung. Kommt durch ein Verhalten ein anderer Mensch zu Tode, ohne dass Vorsatz dabei eine Rolle spielte, ist daher immer zu fragen, ob der Täter nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage war, das lebensgefährliche Geschehen vorauszusehen und abzuwenden.


Ein Beispiel aus dem Leben

human 3324311 1280Die Stiefmutter zwingt die 4 jährige Tochter des Ehemanns aus erzieherischen Gründen einen Pudding aufzuessen, dem das Kind zuvor größere Mengen Salz beigemengt hatte. Kurze Zeit darauf stirbt das Kind an einer Kochsalzintoxikation.

Der BGH verurteilte die Stiefmutter wegen einer vorsätzlich begangenen gefährlichen Körperverletzung (§ 224 StGB), da davon auszugehen sei, dass sie wusste, dass das Kind durch die Aufnahme des Salzes nicht unerhebliche körperliche Beschwerden erleiden würde (BGH, Urteil vom 16. 3. 2006 - 4 StR 536/05). Eine Verurteilung wegen des Todes (§ 227 StGB) des Kindes lehnte das Gericht hingegen ab. Dies begründete es damit, dass es ohne besondere medizinische Sachkenntnis nicht subjektiv voraussehbar sei, dass die Einnahme von 0,5 bis 1 g Kochsalz pro Kilogramm Körpergewicht in der Regel zum Tode führt:

„[...] das Wissen hierum sei wenig verbreitet und gehöre keinesfalls zu jener medizinischen Sachkenntnis, welche sich fast jede Mutter über kurz oder lang aneigne.“

Die in tatsächlicher Hinsicht getroffene Annahme des BGH, dass eine besondere medizinische Sachkenntnis vorliegen müsse, um eine subjektive Vorwerfbarkeit zu begründen, mag angreifbar sein. Das strafbarkeitsbegründende Erfordernis einer subjektiven Vorwerfbarkeit als solches hingegen ist eine rechtsethische Wertentscheidung, die ihre Wurzeln im deutschen Grundgesetz hat. Mit der dort im ersten Absatz des ersten Artikels (Art. 1 I GG) verankerten Würde des Menschen und dem verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzip (insbe. Art. 20 II und III GG) wäre es schlichtweg unvereinbar, jemanden zu bestrafen, der in der konkreten Situation nach seinen individuellen Fähigkeiten nicht in der Lage war sich anders zu verhalten. Man würde einen Menschen für etwas bestrafen, das er nicht besser wusste und/oder nicht besser konnte. Im Strafrecht einen subjektiven Sorgfaltsmaßstab anzuwenden, liegt daher auf der Hand.

Im Zivilrecht hingegen wird jedes schadensstiftende Verhalten allein an einem objektiven, für alle geltenden Sorgfaltsmaßstab gemessen. Maßstab ist ein „Normalmensch“, der keinen der oben genannten persönlichen Defizite aufweist. Für individuelle Schwächen ist hier nur ganz ausnahmsweise Raum. Gehaftet wird eben nicht mit der persönlichen Freiheit, sondern nur mit dem privaten Vermögen. Dies hat für den Beispielsfall zur Folge, dass aus der Perspektive des Zivilrichters der Stiefmutter ein Verschulden zur Last fällt. Diese wäre daher verpflichtet der leiblichen Mutter zur Linderung der erlittenen seelischen Schmerzen eine Entschädigung in Geld zu zahlen.

Fortsetzung folgt.
 
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Titel: Justita © frankfurter-wochenblatt.de
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Autoreninfo:
Dipl. jur. Jan-Philip Utech ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am universitätsinternen Repetitorium der Goethe Universität in Frankfurt. Tätig im Bereich Zivilrecht und Zivilprozessrecht.

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