Ein neues Kapitel im Kampf der SPD gegen ihre Wähler
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Immer, wenn Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ein neues Gesetz oder ein Konzept zu sozialen Fragen der Öffentlichkeit freudestrahlend präsentiert, müssen sich die „hart arbeitenden Menschen“ (Martin Schulz) Sorgen machen.
Der jüngste Angriff auf den Sozialstaat heißt „Betriebsrentenstärkungsgesetz“. Statt die gesetzliche Rente zu stärken, die allein der breiten Allgemeinheit zugutekäme, wird (nach der Enteignung durch die Riester-Rente) erneut die so genannte zweite, also die private, Säule gestützt. Auch diese setzt auf den krisengeschüttelten Kapitalmarkt und sie erweist sich bereits jetzt als Geschenk an die Versicherungswirtschaft, die sich davon erhebliche Profite verspricht.
Der Armutsforscher Christoph Butterwegge schrieb dazu am 1. Juni in der „Frankfurter Rundschau“: „Wer die zweite Säule der Altersvorsorge stärkt, schwächt die gesetzliche Rentenversicherung. Im Rahmen der Entgeltumwandlung werden ihr durch die Beitragsbefreiung des Anteils vom Bruttoeinkommen, der in die betriebliche Vorsorge fließt, Milliardensummen entzogen. Nicht bloß jene Arbeitnehmer, die wegen der Beitragsbefreiung anfangs Sozialabgaben sparen, sondern auch jene, die sich gar nicht an der betrieblichen Altersvorsorge beteiligen, werden mit niedrigeren gesetzlichen Renten bestraft. Denn über die Rentenanpassungsformel, welche die GRV-Verluste auf der Beitragsseite in Leistungsminderungen umsetzt, sinkt das Sicherungsniveau vor Steuern.“
Wenn Martin Schulz und andere Mitglieder der SPD-Parteispitze am späten Abend des 24. Septembers nach verlorener Bundestagswahl vor die Medien treten, wird mutmaßlich ein bekanntes Ritual ablaufen: Man bedankt sich bei den zu wenigen SPD-Wählern und den unermüdlichen Helfern und versucht, die Niederlage zu relativieren. Schließlich würden die Ergebnisse in irgendeinem Kuhdorf im langjährigen Mittel bereits eine Trendwende andeuten. Als Gründe für das erneute Scheitern (nach 2005, 2009 und 2013) werden dann Probleme bei der Erläuterung des Wahlprogramms genannt.
Aber nein, die Menschen, auf welche die SPD angewiesen ist und die ihr teilweise über Jahrzehnte die Treue hielten, haben schon richtig verstanden, was diese Partei ihnen zugemutet hat und weiter zumuten will - und was ihnen mittlerweile stinkt. Beispielsweise die fortgesetzte Schwächung der gesetzlichen Rente.
Die Wähler haben bislang schon nicht verstanden und werden es auch weiterhin nicht verstehen, warum ausgerechnet die Partei, auf die sie seit Jahren zumeist vergeblich hoffen, an der Einführung einer wirkungslosen Mietpreisbremse beteiligt war, statt den Bau und die Vermietung von Luxuswohnungen steuerlich so zu belasten, dass jeder Investor die Insolvenz riskierte und sich aus wirtschaftlichen Gründen nachhaltigen und gemeinnützigen Projekten widmen müsste.
Potentielle SPD-Wähler, die keinen Millionenbetrag am Finanzamt vorbei auf die Cayman-Inseln geschmuggelt haben, lassen sich auch nicht länger in Sachen Bürgerversicherung vertrösten. Denn wer eine solche nicht ohne Wenn und Aber fordert, kann sie auch nicht durchsetzen.
Ähnliches gilt für die allgemeinbildenden Schulen. Wer zusieht, wenn Kinder in Ruinen unterrichtet werden, dokumentiert, dass er den Wert von Bildung und Kultur, häufig wegen eigener Bildungsferne, nicht erkennt. Daran ändert auch nicht der inflationäre Gebrauch des Schlagworts „Digitalisierung“. Wer nicht Lesen, Schreiben und Denken kann, vermag auch die digitalen Prozesse in Produktion, Verwaltung und Wissenschaft nicht zu beherrschen. Wähler, die soziale Gerechtigkeit mit sozialer Verantwortung gleichsetzen, nehmen der SPD längst nicht mehr jedes abgegriffene und inhaltslos gewordene Schlagwort ab.
Und sie werden misstrauisch, wenn beispielsweise der EZB-Präsident klammheimlich die Abschaffung des Bargelds in Gang setzt und die Sozialdemokraten nicht lautstark und permanent dagegen protestieren. Ohne Bargeld wird der normale Bürger von den Banken noch abhängiger sein. Und für die Wirtschaft wird sein Alltag noch transparenter, denn elektronisches Geld bedeutet nichts anderes als ein Glashaus, in dem Nackte dem permanenten Voyeurismus der Händler ausgesetzt sind. Liegt es an einer um sich greifenden politischen Entmündigung, dass die SPD hier nicht in Zeter und Mordio dagegen anschreit?
Auffällig ist auch, dass die Sozialdemokraten keinen Widerstand leisten gegen die beabsichtigte Privatisierung des Autobahnnetzes quasi durch die Hintertür. Auf ein Einkommensteuergesetz, in dem die Steuerpflicht erst bei 2.000 Euro Bruttoverdienst in flacher Kurve einsetzte (also kleine Einkommen, nicht zuletzt die Bezieher von Mindestlöhnen, und Rentner schonte), warten Millionen SPD-Anhänger seit Jahr und Tag.
Doch man könnte den von mir so prophezeiten Ausgang der Bundestagswahl noch abwenden. Das wäre möglich, falls die SPD auf ihrem Bundesparteitag am 25. Juni in Dortmund alle in die politische Verbannung schickte, die zur Schröder-Seilschaft gehörten und gehören.
Und falls beispielsweise ein Mann wie Ralf Stegner, der ganz offensichtlich um die Probleme weiß, aber sie kaum noch artikuliert, das Wort ergriffe und sagte: „Es ist Schluss! Schluss mit den falschen Träumen, Schluss mit den falschen Bündnispartnern, Schluss mit dem falschen Glauben an Märchen, die wir uns selbst wider besseres Wissen erzählen. Wir brauchen nicht mehr Zeit für Gerechtigkeit, wir brauchen endlich Gerechtigkeit. Und deswegen brauchen wir einen funktionieren Sozialstaat und in letzter Konsequenz einen demokratischen Sozialismus.“
Foto: SPD-Wahlprogramm 2017 © RP-Online