kn philippmuller2Anatomie eines Lügenkomplotts, Teil 5/8

Conrad Taler

Bremen (Weltexpresso) - So wie einst Karl Kraus als einziger seine Stimme erhob, als überforderte Polizisten in Wien ein Blutbad unter demonstrierenden Arbeitern anrichteten, so durchbrach auch jetzt wieder nur ein einziger mit Namen das Tabu, Ralph Giordano, der als Demonstrant in Essen dabei war. In seinem Buch »Die Partei hat immer recht« schilderte er in packenden Worten den Ausbruch der Gewalt vor der Gruga: „Der Eingang war schwer bewacht. Die Berittenen trugen lange Stahlruten und die zum Zerreißen gespannte Atmosphäre teilte sich den Tieren mit – sie tänzelten, warfen die Köpfe hoch, schnaubten. Und dann, als, kurz angeleint, Hunde erschienen, explodierte die Menge in furchtbarer Erregung – Sprechchöre, Schreie, herabsausende Gummiknüppel, stürzende Körper, durch die Luft geschleuderte Tschakos. Der Kampf war, von einer Sekunde auf die andere, in vollem Gange. Nach einiger Zeit wichen wir, noch zusammengeballt, vor der bewaffneten Übermacht zurück. An ein allmähliches Auslaufen des Zusammenstoßes war bei der ungeheuren Erbitterung, die sich beider Seiten bemächtigt hatte, nicht mehr zu denken. Auf einem freien Platz lockerte sich die Masse der Demonstranten etwas auf. Es lag jetzt eine größere Strecke zwischen der Polizeikette und uns. Steine flogen. Und plötzlich knallte es, mehrere Male, trocken, nicht anders, als wäre ein Tesching mit Platzpatronen abgefeuert worden. Mit etlichen anderen lief ich auf ein Gestrüpp zu, das einen tiefer liegenden Bahnkörper säumte. Wir hockten da und warteten, dass die Polizisten kommen würden, Aber sie kamen nicht. Nach einiger Zeit erhoben wir uns. Der Platz war leer. Auf der Rückfahrt hieß es, einer der Unseren sei bei der Schießerei getroffen und getötet worden.«

Am nächsten Tag beantragten die kommunistischen Abgeordneten im Düsseldorfer Landtag die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Ihr Antrag wurde abgelehnt. Auch der Bundestag lehnte es ab, sich mit den Vorgängen in Essen zu beschäftigen. Das nordrhein-westfälische Landesparlament beauftragte immerhin seinen Hauptausschuss, die für die Klärung der Tatsachen »eventuell erforderlichen weiteren Schritte« zu beschließen.

Der Ministerpräsident äußerte sich laut Kurzprotokoll am 13. Mai wie folgt: »Trotz mehrmaliger Aufforderung der Polizei, sich zu zerstreuen, kamen die Demonstranten der Aufforderung nicht nach, sondern gingen mit Steinen – Straßenpflastersteinen und Schottersteinen –, Flaschen und anderen Schlagwerkzeugen gegen die eingesetzten Polizeikräfte vor. Da der Widerstand durch den Gebrauch des Polizeischlagstockes nicht gebrochen werden konnte, mehrere Beamte bereits erheblich verletzt waren und sich demnach in einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben befanden, musste von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden. Vor dem Schusswaffengebrauch wurde die Menge dreimal durch Lautsprecherwagen und durch den Einheitsführer aufgefordert, das Werfen einzustellen, widrigenfalls von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden würde. Da die Demonstranten dieser Aufforderung nicht entsprachen, sondern sie im Gegenteil mit verstärktem Steinhagel beantworteten, ordnete der Zugführer nach Abgabe von drei Warnschüssen den Schusswaffengebrauch an.«

Der Schusswaffengebrauch sei »durch Notwehr begründet und auch nach den Waffengebrauchsbestimmungen berechtigt gewesen«.

Wie denn? Hatte es anfangs nicht geheißen, die Polizei habe das Feuer eröffnen müssen, weil sie von den Demonstranten beschossen worden sei? War nicht von einem »Schusswechsel« die Rede gewesen? Und nun dies? Die Behauptung von den schießenden Demonstranten ließ sich nicht aufrechterhalten. Kleinlaut bemerkte die konservative »Rheinische Post« am 15. Mai zu dem Bericht des Ministerpräsidenten: »Nach dieser Darstellung ist die Frage, wer zuerst geschossen hat – die Demonstranten oder die Polizei – nur noch von untergeordneter Bedeutung.« Alles geklärt? Mitnichten.

Unvermittelt kam der Ministerpräsident auf die Ereignisse vor der ›Gruga‹ zurück und sagte: »Nach dem Ergebnis der bisher in sehr ernster und gewissenhafter Weise durchgeführten Ermittlung ist von den Demonstranten zuerst geschossen worden. Nach der Meldung von zwei Polizeibeamten, die zum Schutz des Aussichtsturms der Gruga eingesetzt waren, wurden sie bei der Vorführung eines Festgenommen beschossen. Sie hörten den Abschussknall, und das Geschoss flog in drei Meter Entfernung in Kopfhöhe an ihnen vorbei. Sie beobachteten den Einschlag dieses Geschosses in der zweiten Halle der Gruga.« – Weh dem, der schlecht dabei denkt.

Für die weiteren Beratungen im Hauptausschuss des Düsseldorfer Landtags verlangte der SPD-Abgeordnete Menzel »einwandfreie Zeugenaussagen«. Der KPD-Abgeordnete Karl Schabrod wies darauf hin, dass bei den 283 Festgenommenen »nicht ein einziger Revolver« gefunden worden sei. Am Schluss vermerkt das Protokoll: »Der Polizeidirektor beantwortet noch einige an ihn gerichtete Fragen.« Was das für Fragen waren und wie sie beantwortet wurden, unterschlägt das Protokoll.

Der Abgeordnete Menzel beanstandete das in einem geharnischten Brief an den Ausschussvorsitzenden, den Essener Oberbürgermeister Hans Toussaint: »Das Kurzprotokoll der 26. Sitzung des Hauptausschusses enthält auf Seite 13 leider nicht die Erklärung des Polizeidirektors Herrn Knoche auf meine in der Sitzung an ihn gestellte Frage. Zunächst habe ich Herrn Knoche gefragt, aus welcher Entfernung der angeblich zuerst von den Demonstranten abgegebene Schuss gefallen sei. Herr Knoche gab diese Entfernung mit 6o m an. Meine weitere Frage ergab, dass die Kugel nicht gefunden wurde, sondern trotz der Entfernung von 60 m noch durch eine Holzwand hindurch gegangen sei. Die weitere Frage, aus welcher Entfernung der getötete Demonstrant beschossen worden wäre, beantwortete Herr Knoche mit ›etwa 25 bis 30 m‹. Ich bitte das Protokoll in soweit zu vervollständigen, denn ich bin der Auffassung, dass diese Feststellungen wesentlich sind.«

Ein offensichtlicher Versuch, wichtige Angaben zu unterschlagen, war gescheitert; die Antworten des Essener Polizeichefs führten alle Behauptungen über einen »Schusswechsel« ad absurdum.

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