Conrad Taler
Bremen (Weltexpresso) - Was in jenen Minuten passierte, da Philipp Müller auf dem Rüttenscheider Kirmesplatz von der Kugel aus einer Polizeipistole tödlich getroffen wurde, schildert das Urteil mit dem Aktenzeichen 18 KLs 3/52 so: „In diesem Augenblick wurde der Zeuge Knobloch (Polizeikommissar und Leiter einer Einsatzgruppe der Kölner Polizei, d.V.) von einem Stein an der Schulter getroffen. Hierauf rief dieser nochmals den Demonstranten laut zu, mit dem Werfen der Steine aufzuhören. Gleichzeitig drohte er bei Nichtbefolgung seiner Aufforderung den Gebrauch der Schusswaffe an. Die Demonstranten erwiderten jedoch mit Gejohle und höhnischem Gelächter. Nunmehr gab der Zeuge Knobloch mit seiner Pistole drei Warnschüsse in die Luft ab. Hiervon waren die Demonstranten jedoch in keiner Weise beeindruckt. Vielmehr wurden Rufe laut wie: ›Die schießen ja doch nicht, die schießen ja nur in die Luft!‹ Weiterhin ertönte aus Richtung des zweiten Steinhaufens der Kampfruf: ›Auf zum Kampf gegen die Bluthunde!‹ Als hierauf der Steinhagel noch stärker wurde, erteilte der Zeuge Knobloch seiner Kölner Gruppe den Feuerbefehl, der in beschränktem Umfang auch von der Essener Gruppe befolgt wurde.“
Das Zitat stammt aus einem Brief des Essener Oberstaatsanwalts vom 12. Februar 1953 an den Münchner Rechtsanwalt Dr. Ewald R., der namens der Angehörigen Philipp Müllers Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Mordes erstattet hatte. Dem Anwalt wird darin mitgeteilt, dass nach den richterlichen Feststellungen den beteiligten Polizeibeamten
»keinerlei Verschulden an der Tötung des Philipp Müller zur Last« falle und das Verfahren daher eingestellt werde. Ob überhaupt jemals gegen Polizeibeamte ermittelt worden ist, die damals von der Schusswaffe Gebrauch gemacht oder den Gummiknüppel zu Unrecht eingesetzt haben, erscheint zweifelhaft. Am 20. Juli 2001 habe ich beim Düsseldorfer Justizministerium nachgefragt, was aus der Bitte des damaligen Innenministers Meyers an den Justizminister Rudolf Amelunxen geworden sei, unverzüglich ein Verfahren gegen Unbekannt wegen Körperverletzung einzuleiten. Das Ministerium leitete meinen Brief an den Leitenden Oberstaatsanwalt in Essen weiter. Der antwortete am 28. August 2001, nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen seien keine Verfahrensregister mehr vorhanden, die konkret Aufschluss geben könnten, aber er gehe aufgrund der landgerichtlichen Feststellungen davon aus, dass eine solche Prüfung tatsächlich stattgefunden haben müsse. Anklage wurde gegen keinen einzigen Polizeibeamten erhoben.
Der Oberstaatsanwalt verwies mich zwecks weiterer Nachforschungen auf „so genannte Festschriften« zum Tode Philipp Müllers, die »über die DKP zu beziehen wären“. Zu den Essener Vorgängen selbst schrieb er – im Widerspruch zu den gerichtlichen Feststellungen über die Feuereröffnung durch die Polizei –, nachdem aus den Reihen der Demonstranten »auch Schüsse in Richtung der Polizeibeamten abgefeuert worden waren, machte die Polizei ihrerseits von der Schusswaffe Gebrauch«. So hartnäckig halten sich Lügen aus Zeiten des Kalten Krieges am Leben.
Wenden wir uns deshalb noch einmal dem Geschehen auf dem Rüttenscheider Kirmesplatz zu. Warum enthält das Dortmunder Urteil nicht die Aussage des Essener Polizeichefs, die Polizei habe aus einer Entfernung von 25 bis 30 Metern auf die Demonstranten geschossen? Und was war mit Philipp Müller? Hatte er sich als Gewalttäter so hervorgetan, dass den Polizisten keine andere Wahl blieb, als in Notwehr zur Pistole zu greifen und ihn zur Strecke zu bringen? Nein, laut Urteil war er dadurch aufgefallen, »dass er durch Armbewegungen und Zurufe die anderen Demonstranten einsatzmäßig zu lenken und mitzureißen versuchte«. Deswegen musste er sterben? Merkwürdig mutet auch die Formulierung an: „Der tödliche verletzte Philipp Müller wurde sorgfältig von Polizeibeamten in ein Polizeifahrzeug geladen und in ein Krankenhaus gebracht.“ Warum die Betonung der Sorgfalt beim Einladen des tödlich Verletzten? Gab es da Zweifel? Herr Freud lässt grüßen! Wie ein „Stück Vieh“, berichteten Augenzeugen, hätten Polizisten den Jungen gepackt und in ein Polizeiauto geworfen.
Der Münchner Rechtsanwalt Ewald R. monierte in seiner Strafanzeige gegen Unbekannt, Polizeibeamte hätten den Schwerverletzten „unsachgemäß“ abtransportiert und sich dadurch der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht. Statt einen Arzt oder einen Sanitätswagen anzufordern, um dem Schwerverletzten an Ort und Stelle sachgemäß erste Hilfe zu leisten, sei er brutal an Händen und Beinen gepackt und auf ein Polizeifahrzeug geworfen worden.
Der Münchner Rechtsanwalt Ewald R. monierte in seiner Strafanzeige gegen Unbekannt, Polizeibeamte hätten den Schwerverletzten „unsachgemäß“ abtransportiert und sich dadurch der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht. Statt einen Arzt oder einen Sanitätswagen anzufordern, um dem Schwerverletzten an Ort und Stelle sachgemäß erste Hilfe zu leisten, sei er brutal an Händen und Beinen gepackt und auf ein Polizeifahrzeug geworfen worden.
In Abwesenheit eines Vertreters der Angehörigen wurde die von der Polizei beschlagnahmte Leiche Philipp Müllers auf dem Südwest-Friedhof in Essen-Haarzopf geöffnet. Die Ärzte erklärten – übereinstimmend mit den vorausgegangenen polizeilichen Angaben – der 21Jährige sei von vorn getroffen worden. Nach ihren Angaben war der Tod auf der Stelle eingetreten.
Beteiligte an dem Geschehen äußerten sich ganz anders. Sie sagten, Philipp Müller habe noch gelebt, als er weggeschafft wurde. So hatte ein Polizeibeamter beobachtet, dass der Verletzte röchelte und bewusstlos gewesen sei. Ein anderer sagte aus, er habe den Lautsprecherwagen rufen lassen, damit der Verletzte schnellstens in ärztliche Behandlung komme. Im Gegensatz zu diesen Angaben behauptete der Chef der Essener Polizei, Philipp Müller sei in einem Krankenwagen der Städtischen Berufsfeuerwehr zu den Kruppschen Krankenanstalten gebracht worden. Auf dem Transport sei er verstorben.
Zu diesen Ungereimtheiten passt auch eine Ungereimtheit im Dortmunder Urteil. Dort heißt es an einer Stelle: „Als die beiden Gruppen Wolter und Knobloch gemeinsam den Kirmesplatz zu räumen versuchten, und zwar unter ständigem Steinhagel, fielen aus den Reihen der Demonstranten in Richtung auf die Polizei Schüsse.“ Wie wir wissen, gab Polizeikommissar Knobloch auf dem Kirmesplatz den Feuerbefehl nicht als Antwort auf Schüsse aus den Reihen der Demonstranten, sondern als „der Steinhagel noch stärker“ wurde. An der Gruga, wo nach der Schilderung des Ministerpräsidenten Arnold bereits zuvor auf zwei Polizeibeamte geschossen worden sein soll, hat die Polizei keinen einzigen Schuss abgefeuert. Sie unternahm auch nichts, um etwaige Täter unter den Demonstranten ausfindig zu machen, jedenfalls fehlt darüber jeglicher Nachweis.
Forstsetzung folgt
Foto: ©
Beteiligte an dem Geschehen äußerten sich ganz anders. Sie sagten, Philipp Müller habe noch gelebt, als er weggeschafft wurde. So hatte ein Polizeibeamter beobachtet, dass der Verletzte röchelte und bewusstlos gewesen sei. Ein anderer sagte aus, er habe den Lautsprecherwagen rufen lassen, damit der Verletzte schnellstens in ärztliche Behandlung komme. Im Gegensatz zu diesen Angaben behauptete der Chef der Essener Polizei, Philipp Müller sei in einem Krankenwagen der Städtischen Berufsfeuerwehr zu den Kruppschen Krankenanstalten gebracht worden. Auf dem Transport sei er verstorben.
Zu diesen Ungereimtheiten passt auch eine Ungereimtheit im Dortmunder Urteil. Dort heißt es an einer Stelle: „Als die beiden Gruppen Wolter und Knobloch gemeinsam den Kirmesplatz zu räumen versuchten, und zwar unter ständigem Steinhagel, fielen aus den Reihen der Demonstranten in Richtung auf die Polizei Schüsse.“ Wie wir wissen, gab Polizeikommissar Knobloch auf dem Kirmesplatz den Feuerbefehl nicht als Antwort auf Schüsse aus den Reihen der Demonstranten, sondern als „der Steinhagel noch stärker“ wurde. An der Gruga, wo nach der Schilderung des Ministerpräsidenten Arnold bereits zuvor auf zwei Polizeibeamte geschossen worden sein soll, hat die Polizei keinen einzigen Schuss abgefeuert. Sie unternahm auch nichts, um etwaige Täter unter den Demonstranten ausfindig zu machen, jedenfalls fehlt darüber jeglicher Nachweis.
Forstsetzung folgt
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