Conrad Taler
Bremen (Weltexpresso) - Keiner der später festgenommenen Demonstranten hatte eine Schusswaffe bei sich, und es wurde – nach allem, was bekannt ist – auch bei keinem nach Schmauchspuren gesucht.
Handelte es sich bei dem Verweis auf Schüsse aus den Reihen der Demonstranten um eine Schutzbehauptung, um das Verhalten der Polizei zu rechtfertigen? War am Ende ein V-Mann als agent provocateur am Werk, der den Protest gegen die Wiederbewaffnung in Misskredit bringen sollte?
Die Antwort wird wohl, wie so vieles andere, für immer im Dunkel bleiben. Alle Verfahrensakten des Dortmunder Prozesses um die Vorgänge in Essen wurden, wie mir die zuständige Staatsanwaltschaft mitteilte, vernichtet. In seinem Buch „Anwalt im Kalten Krieg“ nennt Diether Posser das Ausweichen vor dem Konkreten eines der »unheimlichsten Phänomene der Zeitgeschichte“. In einem Prozess vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts Dortmund gegen einen ehemaligen FDJ-Angehörigen aus dem Jahr 1956 hätten sich sieben Zeugen als Lockspitzel der Polizei entpuppt. „Diese Lockspitzel blieben als ›agents provocateurs‹ straffrei, während die von ihnen angeleiteten Mitläufer sich verantworten mussten.“
Alexander von Brünneck schreibt in seinem Buch „Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949 -1968“, den Ermittlungsbehörden sei es gelungen, die kommunistischen Organisationen weitgehend durch „Gewährsleute“ zu unterwandern. Bei den V-Leuten habe es sich nicht immer um besonders seriöse Personen gehandelt, aber sie seien ein zentrales Element in den Ermittlungen gegen Kommunisten gewesen. Auch als Zeugen vom Hörensagen hätten sie gedient. Als Angehörige des Verfassungsschutzes oder der Politischen Polizei sagten sie (zuweilen unter einem Decknamen) vor Gericht aus, sie hätten von einer dritten zuverlässigen Person gehört, dass dieses oder jenes geschehen sei. Über den Gewährsmann selbst brauchte dieser Zeuge keine genauere Auskunft geben. Brünneck zitiert Generalbundessanwalt Ludwig Martin mit den Worten, die Nichtzulassung des Zeugen vom Hörensagen hätte „eine Lähmung unseres gesamten Staatsschutzes“ bedeuten müssen.
Elf Teilnehmer der verbotenen Jugendkarawane wurden wegen Aufruhrs in Tateinheit mit Landfriedensbruch zu insgesamt 76 Monaten Gefängnis verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte 36 Belastungszeugen aufgeboten, 26 davon waren Polizeibeamte. Bei der Begründung des Urteils meinte der Vorsitzende Richter Anton Rheinländer, es sei notwendig gewesen, „fühlbare Strafen zu verhängen, um in genügendem Maße abschreckend zu wirken.“
Derselbe Bundesgerichtshof, der dieses Urteil 1954 abgesegnet hat, äußerte 40 Jahre später sein Erstaunen darüber, dass in der Periode des Kalten Krieges auf beiden Seiten „eine ›politische Justiz‹ mit einer aus heutiger Sicht nicht immer nachvollziehbaren Intensität“ betrieben worden sei (Urteil vom 16. November 1994, 5StR 747/94). Zwei Wochen nach dem Desaster vom 11. Mai 1952 genehmigte das Ordnungsamt der Stadt Essen eine Kundgebung der Jugendkarawane mit gleicher Zielsetzung und gleichen Veranstaltern. Sie verlief reibungslos. Allerdings - so zitiert das Kurzprotokoll über die Sitzung des Landtags-Hauptausschusses vom 25. Juni 1952 den Abgeordneten Schabrod – allerdings habe sich die Polizei im Gegensatz zum 11. Mai größter Zurückhaltung befleißigt.
Bin ich der Wahrheit ein Stück näher gekommen oder muss ich mich der These unterwerfen, es sei unmöglich, die Wahrheit selbst über ein „aufs Genaueste beobachtetes Ereignis festzustellen“, wie der französische Diplomat Georges d’Harcourt über die Schlacht von Solferino räsonierte? Wenn es ernst wird, stirbt die Wahrheit zuerst. Das wusste schon Carl von Clausewitz: »Die meisten Nachrichten sind falsch, und die Furchtsamkeit der Menschen wird zu einer neuen Kraft der Lüge und Unwahrheit.“
Fotos: © DDR-Kabinett-Bochum
Info: Mit Genehmigung des Verfassers aus: Conrad Taler, Gegen den Wind, Geschichten und Texte zum Zeitgeschehen 1927 – 2017, PapyRossa-Verlag, Köln 2017)
Alexander von Brünneck schreibt in seinem Buch „Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949 -1968“, den Ermittlungsbehörden sei es gelungen, die kommunistischen Organisationen weitgehend durch „Gewährsleute“ zu unterwandern. Bei den V-Leuten habe es sich nicht immer um besonders seriöse Personen gehandelt, aber sie seien ein zentrales Element in den Ermittlungen gegen Kommunisten gewesen. Auch als Zeugen vom Hörensagen hätten sie gedient. Als Angehörige des Verfassungsschutzes oder der Politischen Polizei sagten sie (zuweilen unter einem Decknamen) vor Gericht aus, sie hätten von einer dritten zuverlässigen Person gehört, dass dieses oder jenes geschehen sei. Über den Gewährsmann selbst brauchte dieser Zeuge keine genauere Auskunft geben. Brünneck zitiert Generalbundessanwalt Ludwig Martin mit den Worten, die Nichtzulassung des Zeugen vom Hörensagen hätte „eine Lähmung unseres gesamten Staatsschutzes“ bedeuten müssen.
Elf Teilnehmer der verbotenen Jugendkarawane wurden wegen Aufruhrs in Tateinheit mit Landfriedensbruch zu insgesamt 76 Monaten Gefängnis verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte 36 Belastungszeugen aufgeboten, 26 davon waren Polizeibeamte. Bei der Begründung des Urteils meinte der Vorsitzende Richter Anton Rheinländer, es sei notwendig gewesen, „fühlbare Strafen zu verhängen, um in genügendem Maße abschreckend zu wirken.“
Derselbe Bundesgerichtshof, der dieses Urteil 1954 abgesegnet hat, äußerte 40 Jahre später sein Erstaunen darüber, dass in der Periode des Kalten Krieges auf beiden Seiten „eine ›politische Justiz‹ mit einer aus heutiger Sicht nicht immer nachvollziehbaren Intensität“ betrieben worden sei (Urteil vom 16. November 1994, 5StR 747/94). Zwei Wochen nach dem Desaster vom 11. Mai 1952 genehmigte das Ordnungsamt der Stadt Essen eine Kundgebung der Jugendkarawane mit gleicher Zielsetzung und gleichen Veranstaltern. Sie verlief reibungslos. Allerdings - so zitiert das Kurzprotokoll über die Sitzung des Landtags-Hauptausschusses vom 25. Juni 1952 den Abgeordneten Schabrod – allerdings habe sich die Polizei im Gegensatz zum 11. Mai größter Zurückhaltung befleißigt.
Bin ich der Wahrheit ein Stück näher gekommen oder muss ich mich der These unterwerfen, es sei unmöglich, die Wahrheit selbst über ein „aufs Genaueste beobachtetes Ereignis festzustellen“, wie der französische Diplomat Georges d’Harcourt über die Schlacht von Solferino räsonierte? Wenn es ernst wird, stirbt die Wahrheit zuerst. Das wusste schon Carl von Clausewitz: »Die meisten Nachrichten sind falsch, und die Furchtsamkeit der Menschen wird zu einer neuen Kraft der Lüge und Unwahrheit.“
Fotos: © DDR-Kabinett-Bochum
Info: Mit Genehmigung des Verfassers aus: Conrad Taler, Gegen den Wind, Geschichten und Texte zum Zeitgeschehen 1927 – 2017, PapyRossa-Verlag, Köln 2017)