Befindet sich das Programm der Linken in den richtigen Händen?
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Unkalkulierbar, widersprüchlich, kulturell-politisch ungelenk, kleinbürgerlich verschroben, links-autoritär.
Die Eigenschaften, die Weltexpresso-Kollege Heinz Markert in einem Beitrag für die „Frankfurter Rundschau“ der Linkspartei als typisch zuordnet, mögen die eine und andere Person treffend beschreiben und ebenfalls manche nicht zu Ende gedachte Forderung in Partei- und Wahlprogramm der Linken. Aber dieser Katalog der Untugenden trifft im Kern auch auf die SPD zu. Und wenn man die Attribute „links“ und „sozialistisch“ bei einigen Begriffsschöpfungen weglässt, gäbe das entstehende Bild auch die unbefriedigende bis inakzeptable Position von Grünen, CDU, CSU und FDP wieder.
Denn welche Partei ist kalkulierbar, welche in ihrem Programm nicht widersprüchlich, welche erweckt nicht den Eindruck von Bildungs- und Kulturfeindlichkeit und welche verfügt nicht über autoritäre Strukturen? Und welche meidet nicht, wenn sie an einer Regierung beteiligt ist, klare Worte gegen ausländische Despoten? Wenn die Parteien etwas Gemeinsames verbindet, so ist es diese kleinbürgerlich-enge Perspektive, die unfähig ist, über den Tellerrand hinaus zu blicken.
Heinz Markert warnt vor einem „spießbürgerlichen deutschen Sozialismus“ und lässt damit erkennen, dass ihm das „Manifest der kommunistischen Partei“ vom Februar 1848 gut bekannt ist. Marx und Engels haben darin den „wahren“ Sozialismus kritisch analysiert:
„Dieser deutsche Sozialismus, der seine unbeholfenen Schulübungen so ernst und feierlich nahm und so marktschreierisch ausposaunte, verlor indes nach und nach seine pedantische Unschuld. [...] Der deutsche Sozialismus vergaß rechtzeitig, dass die französische Kritik, deren geistloses Echo er war, die moderne bürgerliche Gesellschaft mit den entsprechenden materiellen Lebensbedingungen und der angemessenen politischen Konstitution voraussetzt, lauter Voraussetzungen, um deren Erkämpfung es sich erst in Deutschland handelte. Er diente den deutschen absoluten Regierungen mit ihrem Gefolge von Pfaffen, Schulmeistern, Krautjunkern und Bürokraten als erwünschte Vogelscheuche gegen die drohend aufstrebende Bourgeoisie. [...] Ward der »wahre« Sozialismus dergestalt eine Waffe in der Hand der Regierungen gegen die Bourgeoisie, so vertrat er auch unmittelbar ein reaktionäres Interesse, das Interesse der deutschen Pfahlbürgerschaft. [...] Er proklamierte die deutsche Nation als die normale Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen.“
Knapp 170 Jahre danach ist die Bourgeoisie weitgehend vom globalen (Finanz-) Kapitalismus abgelöst. Die Marktwirtschaft heißt nur noch so und erweist sich in der Realität als Befriedigung des gezielt geweckten Massenkonsums, die Vorrangig den Profiten der Produzenten dient und mit einer beispiellosen Ressourcenvernichtung einhergeht. Die Hilfstruppen des Kapitals definieren sich selbst als unideologische gesellschaftliche Mitte und die meisten Parteien reißen sich darum, das neue Mittelmaß, früher Spießbürger genannt, repräsentieren zu dürfen. Dabei werden die Karten längst von anderen gemischt.
Demokratisch gewählte Parlamente befinden sich im permanenten Visier von Lobbyisten. Regierungen kapitulieren vor angeblichen Sachzwängen, die eindeutig die Ergebnisse rücksichtslos durchgesetzter Einzelinteressen sind. Die keineswegs plurale Gesellschaft scheut sich davor, unterschiedliche politische Positionen klar zu benennen. Stattdessen herrscht ein kaum noch durchschaubarer Etikettenschwindel. So regt sich kaum jemand darüber auf, wenn schwarzvermummte Freikorps, die während des G20-Gipfels in Hamburg brandschatzten, als linksautonom oder linksextremistisch bezeichnet werden. Deren linkes Vokabular entspricht in etwa den Parolen, die einst der „sozialistische“ Flügel der NSDAP unter Gregor Strasser verbreitete. Und Hamburgs linksautonomes Kulturzentrum „Rote Flora“ bedient in naivster Weise die Spekulantenszene im Schanzenviertel, die von einer noch rascheren Gentrifizierung träumt.
Eine linke Politik, die die Verhältnisse qualitativ verändern möchte, wird immer im Spannungsfeld zwischen programmatischem Anspruch und dessen Umsetzung stehen. Das kann man widersprüchlich nennen. Dennoch muss auch die beste Absicht dazu bereit sein, sich um einer noch besseren Lösung Willen zur Disposition zu stellen. Schließlich bedarf jede These einer Antithese. Und der Dialektische Materialismus benötigt den Kampf und die Einheit der Gegensätze.
Politische Programme bedürfen - nicht nur im medialen Zeitalter - einer Visualisierung durch Personen. Nach meiner Einschätzung verkörpern Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch die notwendige Arbeitsteilung zwischen revolutionärer Gesinnung und praktikablen Reformansätzen vergleichsweise glaubwürdig. Es ist zu vermuten, dass dabei autoritär auf den Tisch geschlagen wird. Und populistische Ansätze wären ja vertretbar, falls dabei alle Tatsachen ans Licht kämen. Die eigentlichen Populisten hingegen vereinfachen das allzu Schlichte und erkennbar Falsche.
Wichtig wäre, dass die Linke endlich die kulturpolitischen Folgerungen aus ihrem eigenen Programm zieht. Schließlich spiegeln sich im so genannten kulturellen Überbau die Verhältnisse, die an der ökonomischen Basis herrschen. So könnte beispielsweise die Debatte um Sanierung oder Neubau der Frankfurter Theateranlage mit einem Paukenschlag der Linken in die objektiv richtige Richtung gelenkt werden, wenn statt der Äußerlichkeiten endlich das Bühnenprogramm thematisiert würde. Allerdings ist genau an diesem Punkt die Position der Frankfurter Linkspartei ähnlich nichtssagend wie die der SPD.
Foto: Rote Fahne ©
Es wäre zum Nutzen der Mehrheitsgesellschaft, wenn SPD und Linkspartei sich zu den gemeinsamen Wurzeln bekennen würden und daraus Visionen und Strategien entwickelten.