mufti 6Wie der Mufti von Jerusalem seiner Verhaftung entging, Teil 4/4

Matthias Küntzel

Hamburg (Weltexpresso) - Wie es in Palästina tatsächlich aussah, berichtete am 19. September 1937 ein arabischer Informant:

„Der Terror im Lande ist voll im Gange. Er übt seine Wirkung nicht so sehr durch den Verlust an Leben, sondern durch die nackte Existenz der Terrorbanden aus, und durch die Furcht, der sie große Teile der arabischen Bevölkerung aussetzen. Es ist niemand mehr übrig der es wagen würde, seinen Kopf zu erheben und eine Kampf zu beginnen. Heutzutage wartet man nicht, bis man einen Drohbrief erhalten hat. Man stromert durch die Straßen, um herauszufinden, wo ein Bandenführer steckt, damit man ihm eine Lösegeld, auch wenn es gar nicht gefordert war, zahlen kann, uns sein Leben zu sichern. [Der Informant] N. selbst verbringt keine zwei aufeinanderfolgenden Nächte im selben Bett. Er wechselt seine PKWs täglich. Er hält sich bei seiner täglichen Arbeit an keine festen Zeiten, damit seine Ortswechsel nicht vorhersehbar sind.“[14]

Wie unmittelbar und wie massiv sich das Zurückweichen Londons vor dem Terror im Mandatsgebiet niederschlug, belegen eindrucksvoll einige Dokumente aus dem National Archive in London. Hier findet sich zum Beispiel ein Brief, den ein „Freund in Jerusalem“ am 18. August 1937 an Dr. Weizmann, dem Präsident der Zionistischen Weltorganisation, schrieb.

Es habe, solange eine Verhaftungsabsicht gegen den Mufti existierte und auch der Heilige Bereich des Tempelbergs polizeilich überwacht wurde, „eine äußerst bedeutende Veränderung im Tonfall der arabischen Presse“ gegeben, heißt es hier. „Deren scharfe antisemitische Note verschwand vollständig.“ Dieser Moment gehöre jedoch

„bereits der Vergangenheit an. Während der vergangenen zwei Wochen hat es eine subtile Veränderung der Atmosphäre gegeben, dessen Auswirkungen bereits deutlich zu spüren sind. Sie begann, als allgemein bekannt wurde, dass die [Mandats-]Regierung den Gedanken an eine Verhaftung des Mufti aufgegeben hatte und dass der Haftbefehl gegen ihn zurückgezogen war. Mit beinahe sofortiger Wirkung zogen sich die Gegner des Mufti in ihre Schutzräume zurück. Der Ton der arabischen Presse wurde wieder aggressiver.“ Es werde die Auffassung verbreitet, heißt es weiter in diesem Schreiben, „dass alle Araber ohne Ausnahme den Teilungsplan ablehnen. ... Das wird verbreitet, obwohl in ganz Palästina wohlbekannt ist, mit welchen Methoden alle diese Erklärungen von arabischer Zurückweisung durch die Terror-Maschinerie des Mufti hervorgerufen worden ist. ... Dieser Standpunkt ist grundfalsch. ... Große Anteile der arabischen öffentlichen Meinung würden die Teilung willkommen heißen und das auch öffentlich erklären, wenn sie nicht um ihr Leben fürchten müssten.“[15]

Am 26. September 1937 ermordeten Schergen des Mufti den britischen Distriktkommissar für Galilea, L. Y. Andrews. Jetzt erst ließ London das Oberste Arabische Komitee verbieten und dessen Mitglieder auf die Seychellen deportieren. Jetzt erst wurde der Mufti als Präsident des Obersten Muslimrates abgesetzt und für nicht wählbar erklärt. Er blieb aber im Moscheebezirk Jerusalems und konnte ungestört Besucher empfangen. In der Nacht vom 14. auf den 15. Oktober verließ er, angeblich in Frauenkleidung, den haram asch-scharif und reitete zum 65 km entfernten Jaffa, von wo aus ihn ein Motorboot nach Beirut brachte.

Es sei völlig unverständlich, heißt es in einem Bericht des deutschen Generalkonsuls in Jerusalem, dass es den Mandatsbehörden „nicht möglich gewesen ist, die Flucht des Mufti zu verhindern. Diese grobe Nachlässigkeit der Polizei“ habe sogar zu dem Gerücht Veranlassung gegeben, „dass der Mufti mit Hilfe der Engländer entflohen sei.“

Solange der Mufti unter indirekter britischer Bewachung stand, heißt es weiter in diesem Bericht, habe „allein diese Tatsache ... anfangs manchen Araber von der Beteiligung am Aufstand abgehalten, da er irgendwelche Vergeltungsmaßnahmen gegen den Mufti befürchtete. Dann aber ist das Ansehen des Muftis als eines arabischen Führers und Freiheitshelden durch die unter so romantischen Umständen erfolgte Flucht ins Ungemessene gestiegen.“[16]


Und 80 Jahre danach?

1937 war der antijüdische Terror und die Verfolgung von Muslime, die diesen Terror nicht unterstützten, auf das Mandatsgebiet beschränkt. Schon damals brauchte man nicht nur viel Mut, sich als Araber dem antisemitischen Furor des Mufti zu widersetzen, sondern man benötigte zugleich eine britischen Regierung, deren Haltung die moderaten Kräfte moralisch und politisch stärkte. Hier kam es auf jede Geste an: Je mehr sie den Druck auf den Mufti erhöhte, desto mehr wuchs der Mut Mut seiner Opponenten. Je mehr sie ihren Druck auf den Mufti lockerte, desto größer wurde die Angst: die moderaten Aktivisten verkrochen sich und suchten zu überleben.

Heute tobt der islamistische Terror, der unter des Muftis Führung erstmals aufkeimte, global. Auch heute brauchen Muslime nicht nur viel Mut, diesem Terror entgegenzutreten. Gleichzeitig kommt es erneut auch auf die Haltung der Mächtigen im Westen an. Als Millionen Iranerinnen und Iraner im Juni 2009 auf die Straße gingen, hätten sie ein Wort, eine Geste der Unterstützung durch Barak Obama gebraucht. Das Weiße Haus aber schwieg. Die Mutigen wurden verraten und zogen sich „in ihre Schutzräume zurück.“ Der Terror setzte sich durch.

Manchmal kommt es im Kampf gegen islamistischen Terrorismus auf Entschlossenheit an. Wie am 17. Juli 1937. Hätte der Mufti den Zweiten Weltkrieg auf den Seychellen verbracht, sähe die Welt heute anders aus.


Anmerkungen:

[14] BNA, CO733/332/11, Extract From Letter, Haifa, 16.9.37. Dieser Brief wurde von David Hacohen verfasst und war an Moshe Shertok von der Jewish Agency gerichtet. Vgl. Hillel Cohen, Army of Shadows, Berkeley 2008, S. 124f.

[15] BNA, CO733/351/8, Extract from a personal letter to Dr. Weizmann from a friend in Jerusalem, Dated 18th August, 1937.

[16] Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Beirut 63, Deutsches Generalkonsulat Jerusalem, Verschärfung der innenpolitischen Lage in Palästina. Flucht des Muftis. Jerusalem, den 22. Oktober 1937.


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Info: Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Veröffentlicht auch in Mena-Watch Wien, 05.07.2017.0