Die Vereinnahmung einer Idee durch ihre politischen Gegner
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Olaf Scholz, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, der wegen unzureichender Sicherheitsvorkehrungen beim G20-Gipfel ins Gerede gekommen ist, forderte als damaliger SPD-Generalsekretär im August 2003, den Begriff „demokratischer Sozialismus“ aus dem künftigen Grundsatzprogramm der Partei zu streichen:
„Es gibt keinen Zustand mit diesem Namen, der auf unsere marktwirtschaftlich geprägte Demokratie folgen wird. Deshalb sollten wir nicht solche Illusionen erzeugen.“ Vielmehr müsse die SPD im 21. Jahrhundert „die Blickrichtung wechseln“. Die weitere Verwendung des Begriffs lege den Irrtum nahe, dass die SPD ein Konzept jenseits des Kapitalismus vertrete.
Damals erntete er heftigen Widerspruch, auch aus der eigenen Partei. Selbst Franz Müntefering, der Gerhard Schröders Bündnis mit dem Monopolkapitalismus, die „Agenda 2010“, mit vorbereitet hatte, hielt dies für einen zur Unzeit vorgetragenen Wunsch. Zunächst müsste die ideologische Umpolung weiter Teile von Partei und Stammwählerschaft erfolgreich zu Ende geführt werden. So jedenfalls lassen sich seine weiteren Ausführungen zu dem Thema interpretieren.
Zwar blieb der Bezug auf den demokratischen Sozialismus erhalten, aber es wurden keine politischen Forderungen aus ihm abgeleitet bzw. mit ihm begründet. Die Wahlniederlagen von 2005, 2009 und 2013 deuten jedoch darauf hin, dass eine sozialdemokratische Partei ohne Beschreibung einer Idee, die über den alltäglichen Pragmatismus hinausweist, faktisch ohne Programm antritt und sich von anderen kaum unterscheidbar macht.
Als Martin Schulz in diesem Frühjahr soziale Gerechtigkeit einforderte, klang das für viele wie die Wiedergeburt einer alten Hoffnung. Plötzlich schien linkes Gedankengut sogar außerhalb der Partei, die sich „Die Linke“ nennt, wieder salonfähig geworden zu sein. Doch als Reaktion auf die gewalttätigen Krawalle vermeintlich linksradikaler und linksextremer Gruppen am Rande des G20-Gipfels sind politisch-philosophische Kategorien wie „links“, „linksradikal“ und „linksextrem“ in die Diskussion geraten. Diese Kontroverse wird inhaltlich typischerweise vom politschen Gegner bestimmt; der diese Einordnungen mit negativen Vorzeichen versieht. Die SPD zeichnet sich dabei durch Sprach- und Argumentationsarmut aus, während einige Vertreter der „Linken“ den Verdacht nähren, sie wüssten nicht, was links ist und warum sie selbst links sind.
Deswegen ist es - mal wieder - an der Zeit, die Begriffe zu analysieren und zurecht zu rücken.
Seit den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eint linke Parteien die Überzeugung, dass alle Menschen gleich sind und dass die Überwindung von Ungleichheit und Unterdrückung zu den allerersten Zielen einer humanen Politik zählen müssen. Dieses Menschenbild wurde geprägt durch die Französische Revolution, deren Ideale „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“(Liberté, Égalité, Fraternité) lauteten.
Die Einordnungen „links“ und „rechts“ gehen auf das provisorische Parlament nach der Revolution zurück. Dort nahmen (wie bereits zu Zeiten der Monarchie) rechts vom Parlamentspräsidenten der Adel, links von ihm das Bürgertum Platz. Auch im deutschen Paulskirchenparlament von 1848 saßen die Befürworter einer konstitutionellen Monarchie rechts, die republikanisch gesinnten Abgeordneten links.
Bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts, das auch den Übergang von Agrarwirtschaft und vorindustrieller Handarbeit zur industriellen Produktion markierte, waren mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit eine gerechte Einkommensverteilung und die Vergesellschaftung (Verstaatlichung) der Produktionsmittel sowie die Schaffung eines Bildungssystems verbunden, zu dem jeder Zugang haben sollte. Im „Kommunistischen Manifest“, das Karl Marx und Friedrich Engels 1848 verfassten, wird das Ziel menschlicher Arbeit so beschrieben: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“.
Seither sind die Grundsätze linker Weltanschauung und Politik ziemlich eindeutig formuliert. Seit den 1920er Jahren ist zudem die Einheit von Sozialismus und Demokratie als genuine Fortschreibung der ursprünglichen Ideen anerkannt. In der sozialistischen Theorie wird der demokratische Sozialismus auch als demokratischer, gewaltloser Übergang zum Sozialismus verstanden. Wilhelm Liebknecht, Marxist und einer der Gründerväter der SPD, sah bereits im Jahr 1869 keine Widersprüche: „Sozialismus und Demokratie sind nicht dasselbe, aber sie sind nur ein verschiedener Ausdruck desselben Grundgedankens; sie gehören zueinander, ergänzen einander, können nie miteinander in Widerspruch stehen. [...] Der demokratische Staat ist die einzig mögliche Form der sozialistisch organisierten Gesellschaft. [...] Weil wir die Untrennbarkeit der Demokratie und des Sozialismus begriffen haben, nennen wir uns Sozialdemokraten.“
Im „Gothaer Programm“ von 1875 heißt es: „Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit.“
Im Erfurter Programm der nunmehr legalisierten SPD von 1891 (das Sozialistengesetz war aufgehoben worden) werden diese Perspektiven durch Karl Kautsky noch konkreter formuliert: „Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln [...] in gesellschaftliches Eigentum, und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, dass der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger, harmonischer Vervollkommnung werde.“
Auch die am 1. Januar 1919 gegründete Kommunistische Partei Deutschlands hielt an einem demokratischen Weg zum Sozialismus fest. Sie übernahm ausdrücklich eine Festlegung ihrer Vorläuferorganisation, des Spartakusbundes:
„Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewussten Zustimmung zu den Ansichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes.“
Als im Juli 1951 die „Sozialistische Internationale“, ein Bund sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien, gegründet wurde, hieß es in ihrer ersten Erklärung: „Es gibt keinen Sozialismus ohne Freiheit. Der Sozialismus kann nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie nur durch den Sozialismus vollendet werden.“
Vor diesem Hintergrund sollte endlich nach den sozialistischen Merkmalen jener gefragt werden, die randalierend durch Hamburg gezogen waren. Das wird aber nur dann zu einem Ergebnis führen, wenn Linke zu ihren Idealen stehen. Schließlich gehören diese zu den geistes- und sozialgeschichtlichen Errungenschaften Europas und sind keinesfalls überholt. Sie sind lediglich noch nicht erreicht. Wer davor Angst hat, unterstützt die gezielte Begriffsverwirrung konservativer und rechter Parteien.
Foto: Rote Rose der Sozialistischen Internationale ©