K luther0K lutherLUTHER UND DIE DEUTSCHEN. Der Begleitband zur nationalen Sonderausstellung auf der Wartburg, bis 5. November, Teil 2/3

Claudia Schulmerich

Erfurt (Weltexpresso) – Joachim Whaley fragt in seiner Einführung nach dem Lutherbild, das sich die unterschiedlichen Generationen selbst geschaffen haben. Was 1917 zum 400sten Reformationsjubiläum mitten im Ersten Weltkrieg noch als Nationalfest gefeiert wurde, ist ein Bild von Luther, das heute als nationalistisch perdu, ja verpönt ist.

Problem bleibt, ob es heute für „die Deutschen“ überhaupt ein gemeinsames Lutherbild gibt. Sicher nicht, würde ich vorlaut sagen, aber auch betonen, das muß es auch nicht. Unsere Gesellschaft ist durch Differenzierung geprägt und was wichtig wäre, das ist eben die Erkenntnis, daß es verschiedene Bilder von Luther und auch von der Reformation gibt, die genauer anzuschauen sich lohnen wird. Der Einwand, daß die Gremien zur Durchführung der Lutherdekade 2017 ausschließlich mit deutschen Vertretern besetzt seien, und dies angesichts der Weltbedeutung der Reformation nicht angemessen sei, ist ganz schön überzeugend. Andererseits bewegen wir uns ja in kleinen Schritten und daß Frauen heute dazu gehören und mit Margot Käßmann sogar eine Frau als Botschafterin des Jubiläums verantwortlich sein durfte, ist ein solcher Schritt.

Whaley verschweigt nicht den langen Schatten der deutschen NS-Zeit. “Die Vereinnahmung Luthers durch eine zunehmend konservative und völkisch nationale Bewegung, der Versuch des NS-Staats, sich besonders hinsichtlich der Behandlung der Juden auf Luther zu beziehen, hatte zwei profunde Wirkungen. Fast gleichzeitig entstand im Ausland eine negative Einschätzung von Luthers Rolle in der deutschen Geschichte, die das Geschichtsbild bis in das späte 20. Jahrhundert nachhaltig prägte. Das beeinflußte wiederum ein ähnlich negatives Bild, das vor allem nach dem zweiten Weltkrieg in der BRD entstand. Diese neuen lutherkritischen Sichtweisen maßen sich an den Problemen des modernen Deutschland und waren kaum interessiert an der Realität des 16. Jahrhunderts.“ (16) Der Autor folgert, daß Luther und die Reformation sogar verschärfend als Erklärung dienten zur deutschen Katastrophe und dem Holocaust und eine quellengerechte Einschätzung nicht vorgelegt wurde.

Man sollte also alles ein bißchen tiefer hängen. Luther muß man nicht mit dem „deutschen Geist“, auch nicht dem „deutschen Ungeist“ erklären. Es langt, ihn aus seiner Zeit heraus als handelnde Person zu verstehen, der auf Vorgefundenes, wie beispielsweise den Ablaßhandel, gegenüber der Kirche aus Rom ablehnend reagiert. Das sehen wir alle übrigens heute genauso. Auch die Katholische Kirche in Rom. Whaley sieht für die Lutherzeit folgende Widersprüchlichkeit: die Reform des Reiches ist unter dem Kaiser, dem letzten Ritter, Maximilian I., gut vorangekommen, aber die Reform der Kirche, die gleichzeitig betrieben werden sollte, stagnierte, was die Humanisten zum publizistischen Aufruhr gegen Rom veranlaßte.

„Seine Flucht auf die Wartburg 1521/22 unter dem Schutz des sächsischen Kurfürsten schützte ihn zwar vor dem Kaiser, ließ aber die Bewegung, die er ausgelöst hatte, in die Hände anderer geraten.“ Das ist ein schönes Bild, denn es erinnert latent doch an Goethes ZAUBERLEHRLING, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird. Gilt das nicht auch und besonders für Luther? Liegt es also an uns, diesem Luther eine viel größere Rolle zugemessen zu haben. Wollte der nur schlicht die Kirche reformieren und nicht spalten? Fast alles spricht seit langer Zeit für diese Auffassung, derzufolge Luther nicht der Handelnde blieb, sondern zum Reagierenden wurde. Allein die schon Ende der 1520er Jahre festgelegte Entscheidung, daß jeder Fürst und jeder Stadtmagistrat die ausgeübte Religion nach seinem Gewissen entscheiden sollte, was dann zum für den einzelnen Gläubigen furchtbaren Cuius regio, eius religio im Augsburger Religionsfrieden von 1555 führte, dem direkten Gegensatz zu dem, wovon Luther mit „Die Freiheit eines Christenmenschen“ ausgegangen war. Über hundert Jahre später übrigens und nach dem Dreißigjährigen Krieg, den es ohne Luther und das Luthertum nicht gegeben hätte – oder doch? Ist auch hier Religion wie heute nur die Legitimation für weltliche Macht und Krieg? - wurden im Westfälischen Frieden von 1648 auch die Reformierten als eigenständige Religion anerkannt.

Man verliert sich in den interessanten Aufsätzen, die jeweils den dann fünf Kapiteln vorangehen. Aber sie zu lesen ist nötig – und interessant dazu. Denn bisher hatte ich mir keine Gedanken gemacht, daß das erste 100-Jahre-Jubiläum 1617 stark und konfrontativ auf die konfessionellen Gegensätze setzte, was sich nach dem 30jährigen Krieg 1717 schon abgemildert hatte und 1817 durch die Einwirkungen der Aufklärung und der Französischen Revolution wiederum als Teil der deutschen Geschichte sich zum Positiven änderte. Nicht mehr um Religion ging es, sondern darum, daß ein einzelner Mensch mit Vernunftgedanken gegen die festgezurrte Glaubensherrschaft in Rom opponiert hatte. „Die Aufklärer betrachteten die Reformation als heroische Tat der Deutschen, als den Beginn der Moderne, als eine erste aufklärerische Bewegung. Luther wurde als ihr Anführer und als Begründer einer neuen Sprach- und Kulturentwicklung der Deutschen gewürdigt. “ (17)

Schon interessant, wie ein und derselbe Sachverhalt so unterschiedliche Bedeutungen gewinnen kann, von gesellschaftlicher Ächtung bis zur Feier als „wahre Freiheit“ und „liberales Freiheitsfest“ im Jahr 1817, zu dessen Begehen man die Katholiken einlud. Diese Einschätzung war bei den Oberen und beim gehobenen Bürgertum vorbei, als der Vormärz begann. Schon 1819 hatte man als Preußische Union Lutheraner und Reformierte vereinigt und wollte nicht mehr von den Protestanten sprechen, sondern nur noch von den Evangelischen. Das klang weniger fordernd. Marx und Engels hatten Luther hochgehalten, der die geistige Revolution bewirkt hatte, der die materielle folgen müsse. Franz Mehring kam dann zum Schluß, daß die Reformation eine frühbürgerliche Revolution gewesen sei, „in der Thomas Müntzer der eigentliche Held und Luther der reaktionäre Fürstendiener war“.

Das nun wieder war die Antwort auf die preußische „Heiligsprechung“ von Luther, bei seinem 400sten Geburtstag 1883, die bis 1945 anhielt. „Luther war danach die Verkörperung des Deutschen schlechthin – eine Deutung, die später in das völkische und rassisch-biologische Denken leicht übernommen werden konnte.“ Und wurde. Denn Luther wurde quasi Anführer gegen den Humanismus und das „westliche Denken“, alles Welsche sowieso. Luthers Schriften gegen die Juden dienten zudem als Rechtfertigung für Antisemitismus, bis hin zur Vernichtung des europäischen Judentums in den Gaskammern der Konzentrationslager.

Interessant dann der Hinweis, daß Luther auch hochgehalten wurde gegenüber einer gesellschaftlichen Bedrohung, die diese protestantischen Nationalisten im Ausgang der Reichstagswahl 1912 sahen: Sozialdemokratie und Katholizismus errangen über 50 Prozent der Sitze. Wir sind politisch nicht gewohnt, diese Kombination: Sozialdemokratie und Katholische Kirche überhaupt wahrzunehmen, aber sie wird im Dritten Reich eine wichtige Rolle spielen, wenn auch jeder für sich. Nach 1945 werden die CDU und die Kirchen, insbesondere die Katholische eine Zweckehe eingehen und gegen die SPD als kommunistenhörig hetzen.

Entscheidender ist nach Whaley aber nicht unsere Sicht auf Luther, sondern die des Auslands. Denn bis zum 1. Weltkrieg war Deutschland in der angelsächsischen Welt hoch angesehen und bis 1871 auch in Frankreich. Das änderte sich rapide, ja geriet ins Gegenteil. Eine Formel hieß nun „FROM LUTHER TO HITLER“ und in Frankreich vollzog die Geschichtswissenschaft gleich eine Rolle Rückwärts, in dem auch das einst gelobte HEILIGE RÖMISCH REICH DEUTSCHER NATION nun zum Vorläufer von Hitler erklärt wurde, wobei Luther die Rolle des Anführers gegen Humanismus und Aufklärung zukam.

„Es ist ein Anspruch des Reformationsjubiläums 2017, das Verständnis für die Geschichte der Lutherzeit und ihre seit 500 Jahren wechselnden Interpretationen in der deutschen und außerdeutschen Öffentlichkeit sachgerecht zu vermitteln. Dazu möge die Nationale Sonderausstellung auf der Wartburg und dieser begleitende Band beitragen.“, schließt Whaley.

Keine leichte Aufgabe, aber wer sagt denn, daß Geschichtsrevision und Lutherrevision leicht sein sollten?

Fortsetzung folgt.

Foto:
links Playmobil © ekhn.de
rechts Lutherdenkmal © luther2017.de

Info:

Hrsg. Wartburg-Stiftung-Eisenach, BEGLEITBAND zur Nationalen Sonderausstellung auf der Wartburg 4. Mai-5. November 2017, Michael Imhof Verlag 2017