Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Wer nie ein Kind verlor, weiß nicht, was leiden heißt. „Der Tod eines Kindes“, schreibt Sándor Márai in seinem Roman „Wandlungen einer Ehe“, „das ist der einzige echte Schmerz. Jeder andere Schmerz ist nur eine Annäherung.“
Ist das ein angemessener Einstieg in einen Artikel zum Antikriegstag, der bei uns an jedem 1. September begangen wird, angestoßen vom Deutschen Gewerkschaftsbund im Jahr 1966? Das Datum erinnert an den Beginn des Zweiten Weltkriegskriegs, der wie jeder Krieg mit einer Lüge begann. „Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen“, behauptete Hitler am 1. September 1939 vor dem Deutschen Reichstag. Den Vorwand lieferte ihm ein von deutscher Seite inszenierter polnischer Überfall auf den Sender Gleiwitz. Mit dem Angriff auf Polen begann der Zweite Weltkrieg, in dessen Verlauf Millionen Menschen getötet wurden. Mit jedem Soldaten, der im Kriege starb, verlor eine Mutter, verlor ein Vater seinen Sohn. Und sie durften ihren Schmerz nicht einmal zeigen. Trauerkleidung war verboten, sie hätte den Siegeswillen beschädigen können. „In stolzer Trauer“ wurde der Toten gedacht.
Wer nie ein Kind verlor, weiß nicht, was leiden heißt. Eigentlich müssten eines Tages alle Mütter und alle Väter, die ein Kind durch Krankheit oder einen Unfall verloren, am 1. September auf die Straße gehen, um den Herren und Frauen über Leben und Tod ins Bewusstsein zu rufen, was es heißt, ein Kind zu verlieren. Vielleicht würden denen, wie John F. Kennedy formulierte, die Worte zu Asche im Mund, mit denen sie immer wieder zu rechtfertigen versuchen, dass Mütter und Väter bereit sein müssten, ihre Söhne und Töchter herzugeben - eines höheren Zweckes wegen. Seit 1992 sind bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr nach Angeben des Verteidigungsministeriums 108 Soldatinnen und Soldaten ums Leben gekommen. Wofür sind sie eigentlich gestorben? Wie viele Menschen insgesamt in den Ländern der Auslandseinsätze im Rahmen der Kampfhandlungen beziehungsweise kriegerischen Auseinandersetzungen während der Einsätze ums Leben kamen, ist der Bundesregierung nach ihrer Darstellung nicht bekannt.
Nicht immer lag den Auslandseinsätzen der Bundeswehr ein Mandat des UN-Sicherheitsrates zu Grunde, aber nur in diesem Fall sind sie vom Völkerrecht gedeckt. Auch da liegt es im freien Ermessen der Bundesregierung, ob sie Streitkräfte für einen solchen Einsatz zur Verfügung stellt oder nicht. Sie könnte mir gutem Recht sagen, mit Blick auf die deutsche Vergangenheit wolle sie sich tunlichst zurückhalten. Dem Ansehen der Schweiz und ihrer wirtschaftlichen Prosperität hat es nicht geschadet, dass sie nicht immer gleich Hurra schrie, wenn es um die Beteiligung an Kriegen ging. Ohnedies rufen die Anderen nicht aus moralischen, sondern eher aus fiskalischen Gründen bei militärischen Einsätzen nach deutschen Soldaten; ihre Entsendung mindert die eigenen Kosten. Einer, der deutschen Politikern die Hölle besonders heißt macht, heißt Donald Trump.
Gottlob waren nicht alle so gestrickt wie dieser Präsident. John F. Kennedy zum Beispiel hinterließ der Nachwelt diese Sätze: „Jede Kanone, die gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die hungern und nichts zu essen bekommen, an denen, die frieren und keine Kleidung haben. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiß ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“ Die Auslandseinsätze der Bundeswehr haben nach Angaben des Verteidigungsministeriums seit 1992 knapp 21 Milliarden Euro gekostet. Wie viele Schulen und wie viele Kindertagesstätten hätten dafür saniert oder neu gebaut und wie viele Lehrer hätten zusätzlich eingestellt werden können? Vielleicht fragt das jemand auf den Veranstaltungen zum diesjährigen Antikriegstag, und vielleicht fragt auch jemand danach, was es heißt, ein Kind zu verlieren.
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