kpm Das TV DuellMartin Schulz musste im TV-Duell unter seinen Möglichkeiten bleiben

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Er ist ein guter Rhetoriker, verfügt über umfassende politische Erfahrungen und ihm sind die Fragen, die das Land eigentlich bewegen müsste, völlig klar.

Sein Pech: Er darf die Lebenslügen, die sich die SPD seit Jahren selbst erzählt, nicht in Frage stellen. Sogar in dem Augenblick, als er von den Moderatoren die Gelegenheit erhält, sich von Gerhard Schröder und dessen Agenda eindeutig zu distanzieren, verurteilt er lediglich dessen künftige Tätigkeit bei einem weiteren russischen Konzern. Hätten an diesem Abend doch klare Worte dazu beitragen können, zumindest einen Teil der verlorenen, potentiell sozialdemokratisch wählenden Bürger zurückzuholen. Immerhin muss er auf einen Stimmungsumschwang bei 15 bis 18 Prozent der Wähler hoffen. Dazu bedarf es eines Erdbebens, das dem der Jahre 2004 und 2005 gleichkäme.

Damals erkannten viele Anhänger der SPD, dass sie von Schröder, Müntefering & Co ohne Not dem Neoliberalismus überantwortet worden waren. Ein Teil der Altersrente sollte privatisiert werden und damit unter die Zuständigkeit von Finanzspekulanten fallen; zudem wurde das Rentenalter schrittweise auf 67 Jahre angehoben. Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung wurden nicht mehr hälftig von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen; von einer Bürgerversicherung war keine Rede mehr. Mit Leiharbeitern und geringfügig Beschäftigten sollte das Tarifgefüge unterhöhlt und die Renditen erhöht werden. Umrahmt wurde diese Form des Manchester-Kapitalismus von Scheinselbstständigen. Ältere, vielfach bereits ab dem 50. Lebensjahr, fanden auch bei hoher Qualifikationen kaum noch Arbeit und wurden nach maximal zweijährigem Bezug von Arbeitslosengeld in die vorzeitige, durch Abschläge gekürzte Rente getrieben. Zur Verschleierung dieser Revolution von oben diente der Begriff „Wettbewerbsfähigkeit“.

Die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und klassischer Sozialhilfe führte bei den Opfern des wirtschaftlichen Strukturwandels zu einer Deklassierung. Der bereits von der Kohl-Regierung eingeleitete Verkauf von öffentlichem Wohnungsbesitz führt mittlerweile vor allem in den Großstädten zu einem eklatanten Mangel und zu Mieten, die von Normalverdienern nicht mehr bezahlt werden können. Die SPD hat dieser Entwicklung in den Jahren der Großen Koalition nicht wirksam entgegengesteuert. Deswegen müssen Martin Schulz‘ Worte von mehr Gerechtigkeit bei denen, die darauf dringen angewiesen sind, und das dürften einige Millionen Bürger sein, wie Hohn und Spott klingen.

Stattdessen wurde über den richtigen Umgang gegenüber dem türkischen Autokraten Erdogan und dem unkalkulierbaren US-Präsidenten Donald Trump gestritten - aber leider nur oberflächlich. Denn eine Analyse dieser Konflikte würde auf Defizite und Selbstgefälligkeiten der EU und Deutschlands zurückverweisen. Ebenso schien die bislang nicht stattfindende Integration von Flüchtlingen keiner näheren Erörterung wert gewesen zu sein. Der immer häufiger zu Tage tretende Neo-Nazismus inklusive des Antisemitismus spielte überhaupt keine Rolle in diesem merkwürdigen Duell. Und es scheint zum mittlerweile guten Ton zu gehören, mit Millionenbetrügern wie den Chefs der Autokonzerne zu verhandeln statt sie zum umfänglichen Schadensersatz zu verpflichten.

Diese Versäumnisse sind jedoch auch auf die Fragen der Moderatoren zurückzuführen. Hin und wieder überkam mich beim Zuhören der Verdacht, dass die zwei Damen und die zwei Herren ihr Handwerk in Karl-Eduard von Schnitzlers Agitationsbude gelernt haben. Von einem investigativen Journalismus konnte jedenfalls kaum die Rede sein.

Bundeskanzlerin Angela Merkel fiel auch in dieser Runde nicht durch substanzielle Äußerungen auf, was man von ihr kennt und was ihr ein großer Teil des Publikums offenbar nicht übel nimmt. Die Republik scheint den Scheitelpunkt auf dem Weg hinein in die allgemeine politische Bewusstlosigkeit bereits überschritten zu haben. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass sich die Großkoalitionäre längst über eine Fortsetzung ihres Bündnisses verständigt haben, dies dem Wähler gegenüber aber noch nicht offen zugeben wollten.

Fazit (mit Bertolt Brecht): „Die Blinden reden von einen Ausweg. Ich sehe.“ (Der Nachgeborene)

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Das TV-Duell. © heute.de