Zum Tod von Heiner Geißler
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – Im Guten wie im Schlechten, Heiner Geißler trug sein Herz auf der Zunge, als Mensch und auch als Politiker. Offen und ehrlich zu bekennen, dem Jesuitenorden den Rücken gekehrt zu haben, weil er das Keuschheitsgelübde nicht einhalten konnte – das zeugt von einem festen Charakter.
So einer macht es Freunden und politischen Gegnern nicht leicht. In einem seiner letzten Interviews bekannte Geißler, auf der Suche nach der Wahrheit seine religiöse Heimat verloren zu haben. „Mich packt der heilige Zorn, wenn ich an die evangelische und katholische Theologie denke.“ (Die Zeit, 31. März 2017). Kurz davor, anlässlich des 8. Kirchlichen Filmfestivals in Recklinghausen, sagte er: „Es gibt auf der Erde Geld wie Dreck. Es haben es nur die falschen Leute.“ Wie konnte sich so einer in die CDU verirren? Dass er als Generalsekretär mit Helmut Kohl nicht auf Dauer auskommen würde, lag auf der Hand.
Wenn es darum ging, politische Gegner herabzusetzen und der eigenen Partei einen Vorteil zu verschaffen, kannte er kein Pardon. In unchristlicher Manier („Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen . . .“) bezeichnete er Bundesinnenminister Werner Maihofer von den Freien Demokraten im Zusammenhang mit den Anschlägen der Rote Armee Fraktion als „Sympathisanten des Terrors“. Dasselbe widerfuhr dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Heinrich Albertz, von den Sozialdemokraten. Während des Streits um die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland bezeichnete er die SPD als „Fünfte Kolonne der anderen Seite“. Den Grünen hielt er vor, der Pazifismus der dreißiger Jahre habe „Auschwitz erst möglich gemacht“, und der unterscheide sich in gesinnungsethischer Hinsicht nur wenig von dem heutigen Pazifismus. Willy Brandt hielt Geißler entgegen, „seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land“ zu sein.
Manches von dem, was der scharfzüngige Redner in seinen frühen Jahren zum Besten gab, gilt heute als Ausfluss rechtspopulistischen Denkens. Der 8. Mai, sagte er damals, sei kein Grund zum Feiern, weil zwar der Faschismus besiegt worden sei, nicht aber der Kommunismus. Später schlug er sich auf die Seite Richard von Weizsäckers, nachdem dieser wegen der Bezeichnung des 8. Mai als Tag der Befreiung in den Reihen der Unionsparteien Unmut hervorgerufen hatte. Wortgewaltig wandte sich Geißler anfänglich dagegen, den Rechtsradikalismus als Gefahr zu betrachten. „Es geht um dass Problem des Linksradikalismus“, sagte er am 6. August 1978 im Südwestfunk, „des Kommunismus, des Eurokommunismus und bestimmte Formen des Sozialismus. Dies sind die eigentlichen Formen der Gefährdung unserer Demokratie, und nicht die wenigen versprengten und politisch nicht ernst zu nehmenden Rechtsradikalen.“
Als nach der Vereinigung Deutschlands eine Woge rechtsradikaler Gewaltverbrechen über das Land schwappte, kam auch Heiner Geißler ins Grübeln. „Wie heute über Ausländer gesprochen wird, das ist ein Rechtsruck, das hat es vor drei Jahren noch nicht gegeben. Die Seele unseres ganzen Volkes hat sich verbogen“, klagte er in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 24. Februar 1994. Aber sprach Geißler da noch für die CDU, deren Generalsekretär er bis 1998 war? In vielen Fragen hatte er sich von seinen Parteifreunden abgewandt. Auch sein Verhältnis zum Christentum hatte sich verändert. „Ich bin in erster Linie Demokrat. Ich versuche Christ zu sein. Das mit den zehn Geboten ist mir nicht so wichtig“, zitiert ihn die „Marler Zeitung“ vom 20. März dieses Jahres. Nur wenige Tage später äußerte er in der eingangs erwähnten Ausgabe der „Zeit“:
„Zwei Milliarden Christen könnten sie Welt verändern, wenn die entsprechende geistige Führung da wäre. Die Kirchen müssten Widerstand leisten gegen die Mächtigen dieser Erde. In der Welt des Kapitalismus, der Investmentbanker, einer gigantischen Finanzindustrie mit ihren gesellschaftlichen Leitbildern Egoismus, Gier, Geiz, Erfolg, Dividende, Konsum, Rang und Titel ist Jesus eine totale Provokation und die Verkörperung von Menschlichkeit und Barmherzigkeit. Den Menschen zu helfen geht nur mit Streit, Auseinandersetzung, Kampf. Stattdessen preisen die Kirchen Gott und blasen die Posaune von den Türmen ihrer leeren Kirchen.“ Gut gebrüllt, Löwe!
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