Nora Refail
Zürich (Weltexpresso) - Die Menschen, die sich für, und die, die sich gegen Toleranz aussprechen, sind beide beleidigt und fühlen sich beide im Recht.
Die Debatten oder die Vorhaltungen, die sich heute in der Schweiz insbesondere auch an Fragen der religiösen Toleranz gegenüber muslimischen Gepflogenheiten manifestieren (Handreichung, Burka-Verbot, Minarett-Verbot usw.), betreffen im Kern eine Reihe von Wertvorstellungen. Die einen stehen für Globalisierung, Multikulturalismus, Feminismus, fluide Gender-Rollen, für Toleranz und Diversität der Menschen und Lebensstile. Die anderen, die die zuerst Genannten als naiv, theoretisch und weltfremd bezeichnen, wehren sich gegen Immigration, Offenheit und Toleranz und wollen ihre traditionellen, oft völkischen und lokalen Werte durch starke (männliche) Führung bewahren oder wiederherstellen. Doch was bedeutet Toleranz?
Im allgemeinen Verständnis bedeutet tolerant sein: duldsam sein, den anderen gewähren lassen. Es bedeutet aber auch erdulden, ertragen. Vom 16. Jahrhundert an und seit der Aufklärung gilt Toleranz im Sinne der religiösen Toleranz als Grundlage für eine fortschrittliche Gesellschaft nebst weiteren gesellschaftspolitischen Zielen wie Emanzipation, Bildung, Menschen- und Bürgerrechte. Doch seit jeher wurde der Toleranzgedanke auch kritisiert. Eine Kritik, die bis heute anhält.
Diese geht dahin, die Forderung nach Toleranz suggeriere, es gäbe eine geschlossene Gesellschaft mit einem verbindlichen Wertesystem. Diese müsse Toleranz oder Geduld aufbringen gegenüber einer anderen Gruppe, wohl einer Minderheit, die in ihrem Wertesystem von demjenigen der Mehrheit abweiche. Mit Blick auf die bloss «Tolerierten» impliziere dies, dass die Lebensweise dieser Minderheit falsch oder gefährlich sei oder sogar den sozialen Frieden störe. Diese Toleranz sei für die Minderheit entsprechend erniedrigend. So meinte Johann Wolfgang von Goethe, Dulden heisse beleidigen. Toleranz solle eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein, weshalb der Dichterfürst zur Anerkennung aufforderte. In diesem Sinne sind Respekt, Akzeptanz, Anerkennung und Wertschätzung Steigerungsformen der Toleranz. Sie besagen und beinhalten, dass man eine andere Person gutheisst oder deren Verhalten zustimmend gegenübersteht.
Wie geht nun das Recht mit der Toleranz um? Das Recht setzt zunächst Grenzen, an die sich alle Menschen im jeweiligen Rechtsgebiet zu halten haben. Das Recht sagt, was erlaubt und was nicht erlaubt ist. Verstösse gegen das Recht werden auch strafrechtlich geahndet. So wurde ein Vater mit Migrationshintergrund, der seit 30 Jahren in der Schweiz lebt, wegen Zwangsverheiratung zu 3,5 Jahren verurteilt. Das Recht ist aber auch ein Instrument für die Anerkennung von diversen Denk- und Lebensformen.
Damit es diese Aufgabe erfüllen kann, ist es nicht tolerant, sondern idealerweise neutral ausgestaltet. Das neutrale Recht bietet das Dach, unter welchem die verschiedenen Gemeinschaften, religiöse wie nicht religiöse, sich entfalten und gedeihen können. Gleichzeitig sichern Grundrechte wie zum Beispiel Glaubens- und Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Medienfreiheit sowie Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit für jeden einzelnen Bürger ein Mindestmass an Entfaltungsmöglichkeit, das für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit, Gleichheit und Sicherheit notwendig ist. Grundrechte stehen daher jedem Menschen zu, und zwar unabhängig davon, welcher Glaubensauffassung oder Kultur er angehört. Der Staat darf in diese Grundrechte selbst nicht eingreifen und muss auch vor Übergriffen Dritter schützen. Grundrechte sind aber auch subjektive Rechte. Die Minderheit ist nicht auf Toleranz angewiesen. Sie kann die Rechte gerichtlich einfordern.
Vor diesem Hintergrund der eingrenzenden und auch anerkennenden Gesellschaftsordnung des Rechts stellt sich jedoch die Frage, was für eine Rolle Toleranz in unserer Gesellschaft spielt. Wo ist die Toleranz denn überhaupt noch gefragt? Toleranz ist nicht dort gefragt, wo man dem Anderen gegenüber indifferent ist. Auch nicht dort, wo gewisse Lebensweisen einem missfallen oder man es ungemütlich findet. Um Toleranz geht es auch nicht, wenn die Gründe, jemanden oder eine Lebensweise abzulehnen, bloss Vorurteile sind. Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas bringt in diesem Zusammenhang das Beispiel des Rassisten, von dem nicht Toleranz eingefordert wird, sondern dass er seine Vorurteile überwindet.
Um Toleranz geht es auch nicht, wenn die Gründe für die Ablehnung nicht sachlich sind, sondern diskriminierend. Das heisst, jemand wird wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderungen herabgesetzt und ungleich behandelt. Ein solches Beispiel ist das Schächtverbot. Das Tierwohl ist ein sachliches Argument, die Diskussion um das Schächtverbot ist aber antisemitisch geprägt und somit diskriminierend.
Im Umkehrschluss setzt die Forderung nach Toleranz voraus, dass die Gründe für die Ablehnung vernünftig, sachlich nachvollziehbar sind beziehungsweise öffentlich als legitim gelten dürfen (im Gegensatz zu Vorurteilen oder zu Diskriminierungsabsicht), so Jürgen Habermas. Toleranz ist dort entscheidend, wo die Mehrheitsgesellschaft oder die Mächtigen eingreifen könnten (wie etwa beim Burka- oder Schächtverbot) und sich entscheiden, dies gerade nicht zu tun. Toleranz ist am Platz, wo es richtig schwierig wird, den anderen auszuhalten, moralisch, politisch oder religiös. Toleranz ist gefragt, wo wir Empörung und Abscheu empfinden, weil wir etwas als fundamental falsch erachten. Susan Mendus, Professorin für Politische Philosophie, sagt, die zentrale Herausforderung der Toleranz sei zu erklären, wie es richtig sein kann zu erlauben, was falsch ist.
Nun stellt sich die Frage: Wie kann es richtig sein, etwas Falsches zu erlauben? Welche Gründe gibt es, die die ablehnende Meinung zwar nicht neutralisieren, aber übertrumpfen? Was ist denn der Preis für die Toleranz in einer Situation, die unseren Werten fundamental zuwiderläuft? Es gibt verschiedene Gründe. Darunter fallen auch der Umstand, dass der neutrale Schutzschirm eines säkularen Rechtsstaates essenziell ist für die Entfaltung einer pluralistischen Gesellschaft und dass dies die Basis für eine freiheitliche Demokratie bildet. Und dass es gerade diese weltanschauliche Neutralität des Staates ist, die Grund- und Freiheitsrechte aller – also auch unsere – gewährleistet, und dass die Grenze unserer Freiheit sich nach der Grenze der Freiheit der anderen richtet. Weiters, dass Zusätze in der Verfassung wie das Minarett-Verbot oder allenfalls das Burka-Verbot genau an diesen Grundfesten des neutralen Rechtsstaates rütteln, dass die Verrechtlichung einer Leitkultur und von sozialen Konventionen, dass die Forderung, der Staat solle mit Zwangsgewalt eingreifen und bestimmen können, wie «man» bei uns lebt, durchaus die Basis für eine totalitäre Staatsstruktur sein könnte. Ist dieser Preis der Intoleranz letztlich nicht zu hoch?
Zur Autorin
Nora Refaeil arbeitet als Konsulentin in den Bereichen Vergangenheitsaufarbeitung und Friedensförderung und unterrichtet an der Universität Basel und an diversen Instituten und Akademien Völkerrecht, Menschenrechte und Transitional Justice.
Foto: © tachles
Info: Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 15. September 2017
Wie geht nun das Recht mit der Toleranz um? Das Recht setzt zunächst Grenzen, an die sich alle Menschen im jeweiligen Rechtsgebiet zu halten haben. Das Recht sagt, was erlaubt und was nicht erlaubt ist. Verstösse gegen das Recht werden auch strafrechtlich geahndet. So wurde ein Vater mit Migrationshintergrund, der seit 30 Jahren in der Schweiz lebt, wegen Zwangsverheiratung zu 3,5 Jahren verurteilt. Das Recht ist aber auch ein Instrument für die Anerkennung von diversen Denk- und Lebensformen.
Damit es diese Aufgabe erfüllen kann, ist es nicht tolerant, sondern idealerweise neutral ausgestaltet. Das neutrale Recht bietet das Dach, unter welchem die verschiedenen Gemeinschaften, religiöse wie nicht religiöse, sich entfalten und gedeihen können. Gleichzeitig sichern Grundrechte wie zum Beispiel Glaubens- und Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Medienfreiheit sowie Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit für jeden einzelnen Bürger ein Mindestmass an Entfaltungsmöglichkeit, das für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit, Gleichheit und Sicherheit notwendig ist. Grundrechte stehen daher jedem Menschen zu, und zwar unabhängig davon, welcher Glaubensauffassung oder Kultur er angehört. Der Staat darf in diese Grundrechte selbst nicht eingreifen und muss auch vor Übergriffen Dritter schützen. Grundrechte sind aber auch subjektive Rechte. Die Minderheit ist nicht auf Toleranz angewiesen. Sie kann die Rechte gerichtlich einfordern.
Vor diesem Hintergrund der eingrenzenden und auch anerkennenden Gesellschaftsordnung des Rechts stellt sich jedoch die Frage, was für eine Rolle Toleranz in unserer Gesellschaft spielt. Wo ist die Toleranz denn überhaupt noch gefragt? Toleranz ist nicht dort gefragt, wo man dem Anderen gegenüber indifferent ist. Auch nicht dort, wo gewisse Lebensweisen einem missfallen oder man es ungemütlich findet. Um Toleranz geht es auch nicht, wenn die Gründe, jemanden oder eine Lebensweise abzulehnen, bloss Vorurteile sind. Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas bringt in diesem Zusammenhang das Beispiel des Rassisten, von dem nicht Toleranz eingefordert wird, sondern dass er seine Vorurteile überwindet.
Um Toleranz geht es auch nicht, wenn die Gründe für die Ablehnung nicht sachlich sind, sondern diskriminierend. Das heisst, jemand wird wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderungen herabgesetzt und ungleich behandelt. Ein solches Beispiel ist das Schächtverbot. Das Tierwohl ist ein sachliches Argument, die Diskussion um das Schächtverbot ist aber antisemitisch geprägt und somit diskriminierend.
Im Umkehrschluss setzt die Forderung nach Toleranz voraus, dass die Gründe für die Ablehnung vernünftig, sachlich nachvollziehbar sind beziehungsweise öffentlich als legitim gelten dürfen (im Gegensatz zu Vorurteilen oder zu Diskriminierungsabsicht), so Jürgen Habermas. Toleranz ist dort entscheidend, wo die Mehrheitsgesellschaft oder die Mächtigen eingreifen könnten (wie etwa beim Burka- oder Schächtverbot) und sich entscheiden, dies gerade nicht zu tun. Toleranz ist am Platz, wo es richtig schwierig wird, den anderen auszuhalten, moralisch, politisch oder religiös. Toleranz ist gefragt, wo wir Empörung und Abscheu empfinden, weil wir etwas als fundamental falsch erachten. Susan Mendus, Professorin für Politische Philosophie, sagt, die zentrale Herausforderung der Toleranz sei zu erklären, wie es richtig sein kann zu erlauben, was falsch ist.
Nun stellt sich die Frage: Wie kann es richtig sein, etwas Falsches zu erlauben? Welche Gründe gibt es, die die ablehnende Meinung zwar nicht neutralisieren, aber übertrumpfen? Was ist denn der Preis für die Toleranz in einer Situation, die unseren Werten fundamental zuwiderläuft? Es gibt verschiedene Gründe. Darunter fallen auch der Umstand, dass der neutrale Schutzschirm eines säkularen Rechtsstaates essenziell ist für die Entfaltung einer pluralistischen Gesellschaft und dass dies die Basis für eine freiheitliche Demokratie bildet. Und dass es gerade diese weltanschauliche Neutralität des Staates ist, die Grund- und Freiheitsrechte aller – also auch unsere – gewährleistet, und dass die Grenze unserer Freiheit sich nach der Grenze der Freiheit der anderen richtet. Weiters, dass Zusätze in der Verfassung wie das Minarett-Verbot oder allenfalls das Burka-Verbot genau an diesen Grundfesten des neutralen Rechtsstaates rütteln, dass die Verrechtlichung einer Leitkultur und von sozialen Konventionen, dass die Forderung, der Staat solle mit Zwangsgewalt eingreifen und bestimmen können, wie «man» bei uns lebt, durchaus die Basis für eine totalitäre Staatsstruktur sein könnte. Ist dieser Preis der Intoleranz letztlich nicht zu hoch?
Zur Autorin
Nora Refaeil arbeitet als Konsulentin in den Bereichen Vergangenheitsaufarbeitung und Friedensförderung und unterrichtet an der Universität Basel und an diversen Instituten und Akademien Völkerrecht, Menschenrechte und Transitional Justice.
Foto: © tachles
Info: Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 15. September 2017