Vor den Jamaika-Sondierungsgesprächen
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Was wir derzeit erleben, geht weit über das hinaus, was es an Inszenierungen nach einer Bundestagswahl bisher gegeben hat. Selbst bei einem Machtwechsel waren die zu erwartenden Folgen weniger gravierend als jetzt, abgesehen von der Regierungsübernahme durch Willy Brandt.
Die Alternative lautet diesmal: Abmarsch nach rechts oder weiter auf den ausgetretenen Pfaden mit Angela Merkel an der Spitze. Das Eine wird mit Grünen und Freien Demokraten nicht gehen, das Andere nicht mit der CSU.
Dunkle Wolken brauen sich nicht nur über der Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzenden zusammen, sondern auch über dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer. Der kann sich in seinem Rechtskurs durch den Ausgang der Parlamentswahl in Österreich zwar ermutigt fühlen, ist aber durch parteiinterne Intrigen so angeschlagen, dass sein politisches Ende besiegelt zu sein scheint. Angela Merkel, die von sich meint, immer alles richtig gemacht zu haben, muss von heute auf morgen nicht mit Vergleichbarem rechnen. Den Zenit ihrer Macht und ihres Ansehens in der Partei hat sie aber überschritten.
Was sich in Österreich abspielt, könnte den konservativen Flügel der CDU ermuntern, stärker als bisher eine Neuorientierung nach dem Muster der Schwesterpartei im Nachbarland mit einem dynamischen Sebastian Kurz an der Spitze zu fordern. Der Ruf aus Bayern nach einem bürgerlich-konservativen Kurswechsel zielt schon in diese Richtung. Aber mit Mutti Merkel wird das schlecht gehen. Der seit kurzem in Schleswig-Holstein an der Spitze einer Jamaika-Koalition amtierende Ministerpräsident Daniel Günter von der CDU warnte seine Parteifreunde vor falschen Schlüssen. „Ich halte einen Rechtsruck der Union schlicht für das falsche Signal.“
Über die Gründe der Misere wird in den demokratischen Parteien nicht offen gesprochen, obwohl die Spatzen in ganz Europa das Übel von allen Dächern pfeifen: Schuld ist die Ignoranz gegenüber den Sorgen und Ängsten vieler Menschen angesichts einer scheinbar ungebremsten Zuwanderung von Menschen aus einem Kulturkreis, dessen Lebensgewohnheiten den europäischen Traditionen und Lebensgewohnheiten in vielen Dingen zuwiderlaufen.
Professor Frank Decker vom Institut für politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn hat gefordert, die Motive und die gesellschaftlichen Gründe der Wähler ernst zu nehmen. „Es geht, ganz pauschal gesagt, um das Thema des sozialen und kulturellen Zusammenhalts“, meinte er im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 4. Oktober 2017. „In der ganzen Aufregung sollte man nicht vergessen: Im Kern ist das Anliegen aller rechtspopulistischen Parteien in Europa die Zuwanderung. Da hat man manches laufen lassen, anstatt den Eindruck einer geordneten Politik und der gemeinschaftlichen Verständigung zu erwecken.“ Bei den Linken hat sich das noch nicht herumgesprochen. Ex-Parteichef Oskar Lafontaine warf der Führung eine „verfehlte Flüchtlingspolitik“ vor. Die „Lasten der Zuwanderung“, so Lafontaine auf Facebook, dürften nicht über „verschärfte Konkurrenz im Niedriglohnsektor, steigende Mieten in Stadtteilen mit preiswerten Wohnungen und zunehmende Schwierigkeiten in den Schulen mit wachsendem Anteil von Schülern mit mangelnden Sprachkenntnissen“ sozial Benachteiligten auferlegt werden.
Wie sich Grüne und Freie Demokraten bei den Sondierungsgesprächen mit der CDU/CSU in dieser Frage verhalten werden, bleibt abzuwarten, von allem Anderen abgesehen. Angela Merkel rechnet damit, dass die Verhandlungen „mehrere Wochen“ dauern. Die FDP will nach den Worten ihrer Generalsekretärin Nicola Beer „vorurteilsfrei und ergebnisoffen“ in die Gespräche gehen. Die Grünen-Vorsitzende Simone Peter sagte, für die Grünen müsse „das Beste herausgeholt werden“. Wie das aussehen soll, ließ sie offen. Ein paar Ministerposten sollten es dann wohl auf jeden Fall sein.
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