Zur Krise der Linken
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das Elend, in das sich die SPD manövriert hat, scheint die Linke nicht davor abzuschrecken, es ihr gleichtun zu wollen.
Denn die Auseinandersetzungen zwischen Fraktionsspitze und Parteiführung sind nicht nur ein Hinweis auf verletzte Eitelkeiten. Es geht um die Richtung, bezeichnenderweise nicht um die nach links, sondern um die zur Mitte.
Den einen ist sie Paradies, den anderen Hölle. In dieser nur theoretisch vorhandenen gesellschaftliche Schnittmenge, in der mutmaßlich Wahlen gewonnen oder verloren werden, soll sich der Schmelztiegel für unterschiedliche Meinungen befinden. Doch es hat den Anschein, dass Politiker unter der Mitte lediglich Mittelmaß verstehen. Also eine Sphäre, wo Profillosigkeit nicht mehr auffällt und wo Interessengegensätze nicht mehr wahrgenommen werden, sich im Idealfall in unreflektierte Harmonie auflösen. Letzteres zu Lasten von Zuständen, die alles andere als harmonisch sind. Die Mitte wäre demnach die Gegenwelt zur Welt der Tatsachen.
Die Linke, die längst im Establishment angekommen ist, auch wenn sie nach wie vor mit dem Odium der Schmuddelkinder behaftet scheint, läuft derzeit Gefahr, ebenfalls in dieser Mittelmäßigkeit den Glücksweg zum Erfolg zu sehen. Tatsächlich ist Politik jedoch jenseits aller Schönfärberei nach wie vor Deklaration und Durchsetzung berechtigter und unberechtigter Interessen. Während sich Katja Kipping und Manfred Riexinger in geradezu sozialdemokratischer Weise um die Heilung von Symptomen bemühen (z.B. Hartz IV, Mindestlohn), stellt Sahra Wagenknecht die Systemfrage. Schließlich werden die sozialen Strukturen der Bundesrepublik, die sich noch nie in einem idealen Zustand befunden haben, durch den Neoliberalismus ausgehöhlt, sogar vollständig infrage gestellt. Deswegen sind nicht Reparaturen angesagt, sondern sind Veränderungen nötig. Zumindest aus der Sicht jener, die ständig verlieren, obwohl sie unablässig lernen, studieren, arbeiten und die Sozial- und Steuerkassen füllen.
Ein besonderer Streitpunkt zwischen Katja Kipping und Sahra Wagenknecht ist die Flüchtlingsfrage. Diese lässt sich nicht auf die humane Dimension, also das Asylrecht, den subsidiären Schutz und die Integration, reduzieren. Denn Aufklärung tut not. Wer sind die Verursacher der Kriege, deren Folge die Flüchtlingsströme sind? Wer soll materiell haften für eine katastrophenträchtige Wirtschafts- und Außenpolitik?
Nur wer diese Fragen mit der notwendigen Deutlichkeit stellt und sie eindeutig beantwortet, verhindert, dass das Problem von rechtsradikalen Populisten zerredet und damit zum Konflikt zwischen benachteiligten Einheimischen und Geflüchteten wird - und so von den tatsächlichen Verstrickungen ablenkt. Dem schlichten Spruch „Wir können nicht die ganze Welt zu Lasten unserer eigenen Bevölkerung aufnehmen“ muss entgegengehalten werden „Wir können nicht länger hinnehmen, dass deutsche Konzerne die Kriegsparteien aufrüsten, millionenfaches Elend produzieren, die Verantwortlichen Milliarden in die eigenen Taschen stecken und die unabweisbaren Folgen dem Normalbürger auflasten wollen“.
Die Globalisierung ist keine Errungenschaft, die sich allein aus technologischen Prozessen und einer engeren internationalen Zusammenarbeit ergibt. In der Art, in der sie betrieben wird, erweist sie sich als eine systemimmanente Markt- und Produktionsstrategie des Kapitalismus. Profite, Löhne und Verelendung werden auf verschiedene Länder verteilt, sodass der Klassenkampf durch einen Streit der Nationen und Religionen ersetzt wird. Die Auswirkungen dieser neueren Spielart des Kolonialismus verstärken sich noch durch die spürbaren Folgen der Umwelt- und Klimazerstörung. Gegen diese Strategie der verbrannten Erde kann nur ein Internationalismus der werktätigen Bevölkerungen Erfolgsaussichten haben.
Diese Zusammenhänge zu erkennen und Gegenstrategien zu entwickeln muss die zentrale Aufgabe einer Partei werden, die sich „Die Linke“ nennt. Aber auch Sozialdemokraten sind aufgerufen, sich ihrer Wurzeln zu besinnen und darnach zu handeln. Schließlich sind beide aus einer Ideenwelt hervorgegangen, die von Marx und Engels begründet und später u. a. von Adorno, Horkheimer und Marcuse fortgeschrieben wurde. Diese Erinnerung wird allen Nachdenklichen signalisieren, dass sich linke Politik nicht auf das Einsammeln von Proteststimmen beschränkt, sondern ein humanistisches Konzept verfolgt, in welchem sich die deutsche und die europäische Geistesgeschichte spiegeln und das von dem Willen zu einer gerechten Gesellschaft bestimmt ist.
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Vorstand und Fraktionsspitze der Linken © tagesschau.de